Pünktchen und Fräulein Andacht gelangten ohne Zwischenfälle in die Wohnung. Die Eltern waren noch immer beim Generalkonsul Ohlerich. Das Kind legte sich ins Bett und schlief auf der Stelle ein. Piefke knurrte leise, weil er geweckt worden war. Das Kinderfräulein ging in ihr Zimmer, schloß die Bettelkleider in die Kommode, und dann begab auch sie sich zur Ruhe.
Anton konnte noch nicht ins Bett. Er schlich, am Zimmer seiner Mutter vorbei, durch den Korridor, machte in der Küche Licht, versteckte sein Handköfferchen, setzte sich an den Tisch, stützte den Kopf in die Hände und gähnte, daß er sich fast die Kiefer ausgerenkt hätte. Dann zog er ein blaues Oktavheft und einen Bleistift aus der Tasche und schlug das Heft auf. 'Ausgaben' stand auf der einen Seite, 'Einnahmen' stand auf der anderen. Er griff in die Hosentasche, legte ein Häufchen Münzen auf den Tisch und zählte eifrig. Zwei Mark fünfzehn waren es. Wenn Pünktchen und der nette Herr nicht gewesen wären, hätte ich jetzt fünfundvierzig Pfennige, dachte er und trug die Abendeinnahme ins Heft ein.
Mit dem Überschuß, den er heimlich im Tuschkasten aufbewahrte, hatte er fünf Mark und sechzig Pfennige, und fünf Mark wollte der Wirt allein für Miete haben! Demnach blieben sechzig Pfennig fürs Essen. Er blickte in die kleine Speisekammer. Kartoffeln waren noch da. Auf dem Schneidebrett lag eine Speckschwarte. Wenn er morgen den Tieget mit der Schwarte einrieb, kamen vielleicht Bratkarloffein zustande. Aber aus dem Viertelpfund Leberwurst wurde wieder nichts. Und er hatte so riesigen Appetit auf Leberwurst! Er zog die Schuhe aus, legte die Apfelsinenscheiben auf einen Teller, machte dunkel und schlich aus der Küche. An der Tür zum Schlafzimmer blieb er stehen und preßte das Ohr ans Holz. Die Mutter schlief. Er hörte ihre ruhigen Atemzüge, manchmal schnarchte sie sogar ein bißchen. Anton streichelte die Tür und lächelte, weil die Mutter gerade wieder aufschnarchte. Dann schlich er in die Wohnstube. Er zog sich im Finstern aus, hängte den Anzug über den Stuhl, legte das Geld in den Tuschkasten, kroch aufs Sofa und deckte sich zu.
Hatte er die Korridortür abgeschlossen? War der Gashahn zugedreht? Anton warf sich unruhig hin und her, dann stand er noch einmal auf und sah nach, ob alles in Ordnung war.
Es war alles in Ordnung. Er legte sich wieder hin. Die Rechenaufgaben hatte er gemacht. Aufs Diktat vorbereitet hatte er sich auch. Hoffentlich schrieb Herr Bremser der Mutter keinen Brief. Denn dann kam es heraus, daß er abends auf der Weidendammer Brücke stand und Schnürsenkel verkaufte. Hatte er noch genug Schnürsenkel? Die braunen würden nicht mehr lange reichen. Man trug anscheinend mehr braune Schuhe als schwarze. Oder gingen braune Schnürsenkel schneller entzwei?
Anton legte sich auf seine Schlafseite. Hoffentlich wurde die Mutter wieder ganz gesund. Dann schlief er endlich ein.
Die siebente Nachdenkerei handelt
Vom Ernst des Lebens
Neulich war ich in Rostock auf dem Jahrmarkt. Die Straßen, die sich schräg zur Warnow hinabsenken, standen voller Buden, und unten am Ufer drehten sich Karussells. Ich wurde, weil alles so schön laut war, sehr fidel, stellte mich an eine Zuckerwarenbude und verlangte für zehn Pfennige türkischen Honig. Er schmeckte großartig.
Da kam ein Junge mit seiner Mutter vorüber, zog die Frau am Ärmel und sagte: "Noch einen Pfefferkuchen!" Dabei trug er schon fünf Pfefferkuchenpakete unterm Arm. Die Mutter stellte sich taub. Da blieb er stehen, stampfte mit dem Fuß auf und krähte. "Noch einen Pfefferkuchen!"
"Du hast doch schon fünf Pakete", erklärte die Mutter. "Denk nur, die armen Kinder kriegen überhaupt keinen Pfefferkuchen!"
Wißt ihr, was der Junge antwortete?
Er schrie ärgerlich: "Was gehen mich denn die armen Kinder an?" Ich erschrak so, daß ich fast meinen türkischen Honig samt dem Papier auf einmal verschluckt hätte. Kinder, Kinder! Hält man das für möglich?
Da hat so ein Junge das unverdiente Clück, wohlhabende Eltern zu bekommen, und dann stellt er sich hin und schreit: "Was gehen mich die armen Kinder an!" Anstatt von seinen fünf Paketen Pfefferkuchen armen Kindern zwei zu schenken und sich zu freuen, daß er denen eine kleine Freude machen kann!
Das Leben ist ernst und schwer. Und wenn die Menschen, denen es gutgeht, den anderen, denen es schlechtgeht, nicht aus freien Stücken helfen wollen, wird es noch mal ein schlimmes Ende nehmen.
Achtes Kapitel
Herrn Bremser geht ein Licht auf
Freitag kann Pünktchen eine Stunde früher als sonst aus der Schule. Direktor Pogge wußte das und schickte den Chauffeur mit dem Auto bin, daß er das Mädchen mit dem Wagen heimführe. Um diese Zeit brauchte er das Auto noch nicht, und Pünktchen fuhr so gern im Auto.
Der Chauffeur legte die Hand an die Mütze, als sie aus dem Portal der Schule trat, und öffnete den Schlag. Sie lief auf ihn zu und gab ihm begeistert die Hand. "Tag, Herr Hollack", sagte sie. Die andern kleinen Mädchen freuten sich schon. Denn wenn Pünktchen Pogge mit dem Wagen abgeholt wurde, durften stets so viele mitfahren, wie hineingingen. Heute aber drehte sich Pünktchen auf dem Trittbrett herum, blickte alle betrübt an und sagte: "Kinders, nehmt mir's nicht übel, ich fahre allein." Da standen nun die andern vorm Auto wie die begossenen Pudel. "Ich habe etwas Wichtiges vor", erklärte Pünktchen. "Und da wärt ihr mir nur im Wege." Dann setzte sie sich ganz allein in das große Auto, nannte dem Chauffeur eine Adresse, er stieg auch ein, fort ging's, und zwanzig kleine Mädchen blickten traurig hinter dem schönen Auto her.
Nach ein paar Minuten hielt der Wagen vor einem großen Gebäude, und das war schon wieder eine Schule!
"Lieber Kerr Hollack", sagte Pünktchen, "einen kleinen Moment, wenn ich bitten dürfte." Herr Hollack nickte, und Pünktchen lief rasch die Stufen hinan. Es war noch Pause. Sie kletterte in die erste Etage und fragte einen Jungen, wo das Lehrerzimmer sei. Er führte sie hin. Sie klopfte. Weil niemand öffnete, klopfte sie noch einmal, und zwar ziemlich heftig.
Da ging die Tür auf. Ein großer junger Herr stand vor ihr und kaute eine Stulle.
"Schmeckt's?" fragte Pünktchen.
Er lachte, "Und was willst du noch wissen?"
"Ich beabsichtige, Herrn Bremser zu sprechen", erklärte sie. "Mein Name ist Pogge."
Der Lehrer schluckte einmal und sagte dann: "Na, da komm mal rein." Sie folgte ihm, und sie kamen in ein großes Zimmer mit vielen Stühlen. Auf jedem der vielen Stühle saß ein Lehrer, und Pünktchen kriegte bei diesem schauerlich schönen Anblick Herzklopfen. Ihr Begleiter führte sie ans Fenster, dort lehnte ein alter, dicker Lehrer mit einer uferlosen Glatze. "Bremser", sagte Pünkichens Begleiter, "darf ich dir Fräulein Pogge vorstellen? Sie will dich sprechen."
Dann ließ er die beiden allein.
"Du willst mich sprechen?" fragte Heir Bremser.
"Jawohl", sagte sie. "Sie kennen doch den Anton Cast?"
"Er geht in meine Klasse", erklärte Herr Bremser und guckte aus dem Fenster.
"Eben, eben", meinte Pünktchen befriedigt. "Ich sehe schon, wir verstehen uns."
Herr Bremser wurde langsam neugierig. "Also, was ist mit dem Anton?"
"In der Rechenstunde eingeschlafen ist er", erzählte Pünktchen. "Und seine Schularbeiten gefallen Ihnen leider auch nicht mehr."
Herr Bremser nickte und meinte: "Stimmt." Inzwischen waren noch ein paar andere Lehrer hinzugetreten, sie wollten hören, was es gebe.
"Entschuldigen Sie, meine Herren", sagte Pünktchen, "wollen Sie sich bitte wieder auf Ihre Plätze begeben? Ich muß mit Herrn Bremser unter vier Augen sprechen." Die Lehrer lachten und setzten sich wieder auf ihre Stühle. Aber sie sprachen fast gar nicht mehr und spitzten die Ohren.