Und dann fragte sie, ohne sich umzuwenden: "Den wievielten haben wir heute?"
Er wunderte sich zwar, lief aber, um sie nicht noch mehr zu ärgern, zum Wandkalender hinüber und las laut: "Den 9. April."
"Den 9. April", wiederholte sie und preßte ihr Taschentuch vor den Mund.
Und plötzlich wußte er, was geschehen war! Die Mutter hatte heute Geburtstag. Und er hatte ihn vergessen!
Er fiel auf seinen Stuhl zurück und zitterte. Er schloß die Augen und wünschte nichts sehnlicher, als auf der Stelle tot zu sein... Deswegen war sie also heute aufgestanden. Und deswegen hatte sie Linsen mit Würstchen gekocht. Selber hatte sie sich einen Blumenstrauß kaufen müssen! Nun stand sie am Fenster und war von aller Welt verlassen. Und er durfte nicht einmal hingehen und sie streicheln. Denn das konnte sie ihm nicht verzeihen. Wenn er wenigstens gewußt hätte, wie man ganz schnell krank wird. Dann wäre sie natürlich an sein Bett gekommen und wieder gut gewesen. Er stand auf und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und fragte bittend: "Hast du gerufen, Mama?"
Aber sie lehnte still und unbeweglich am Fenster. Da ging er hinaus, hinüber in die Küche, setzte sich neben den Herd und wartete, daß er weinte. Aber es kamen keine Tränen. Nur manchmal schüttelte es ihn, als hielte ihn wer am Kragen.
Dann suchte er den Tuschkasten hervor und nahm eine Mark heraus. Das hatte ja nun alles keinen Sinn mehr. Er steckte die Mark in die Tasche. Ob er vielleicht doch noch hinunterlief und etwas holte? Er konnte es ja nachher durch den Briefkasten werfen und fortlaufen. Und nie mehr wiederkommen! Schokolade ließ sich leicht durch den Briefkastenspalt schieben und eine Gratulationskarte dazu. "Von Deinem tiefunglücklichen Sohn Anton", würde er darunter schreiben. So würde ihm die Mutter wenigstens ein gutes Andenken bewahren können.
Auf den Zehenspitzen schlich er aus der Küche, durch den Korridor, klinkte die Korridortür behutsam auf, trat hinaus und schloß die Tür wie ein Dieb.
Die Mutter stand noch lange am Fenster und sah durch die Scheiben, als liege dort draußen ihr armseliges, trübes Leben ausgebreitet. Nichts als Kummer hatte sie gehabt, nichts als Krankheit und Sorgen. Daß ihr Junge den Geburtstag vergessen hatte, schien ihr von heimlicher Bedeutung. Auch er ging ihr allmählich verloren wie alles vorher, und so verier ihr Leben den letzten Sinn. Als sie operiert worden war, hatte sie gedacht: Ich muß leben bleiben, was soll aus Anton werden, wenn ich jetzt sterbe? Und nun vergaß er ihren Geburtstag!
Endlich regte sich Mitleid mil dem kleinen Kerl. Wo mochte er slecken? Er hatte seine Vergeßlichkeit längst bereut. "Hast du gerufen, Mama?" hatte er noch gefragt, bevor er mutlos das Zimmer verließ. Sie durfte nicht hart sein. Er war so erschrocken gewesen. Sie durfte nicht streng sein, er hatte in den letzten Wochen ihretwegen viel ausgestanden. Erst hatte er sie jeden Tag im Krankenhaus besucht. In der Volksküche hatte er essen müssen, und Tag und Nacht war er mutterseelenallein in der Wohnung gewesen. Dann war sie nach Haus gebracht worden. Seit vierzehn Tagen lag sie im Bet, und er kochte und holte ein, und ein paarmal hatte er sogar die Zimmer mit einem nassen Lappen aufgewischt.
Sie begann ihn zu suchen. Sie trat ins Schlafzimmer. Sie ging in die Küche. Sie sah sogar in der Toilette nach. Sie machte im Korridor Licht und schaute hinter die Schränke.
"Anton!" rief sie. "Komm, mein Junge, ich bin wiedet gut! Anton!"
Sie rief bald laut und bald leise und zärtlich. Er war nicht in der Wohnung. Er war fortgelaufen! Sie wurde sehr unruhig. Sie rief bittend seinen Namen. Er war fort.
Er war fort! Da riß sie die Wohnungstür auf und rannte die Treppe hinunter, ihren Jungen zu suchen.
Die neunte Nachdenkerei handelt:
Von der Selbstbeherrschung
Mögt ihr den Anton gut leiden? Ich hab ihn sehr gern. Aber einfach davonlaufen und die Mutter sitzenlassen, das gefällt mir, offen gestanden, nicht besonders. Wo kämen wir hin, wenn jeder, der etwas falsch gemacht hat, davonrennen wollte? Das ist gar nicht auszudenken. Man darf nicht den Kopf verlieren, man muß ihn hinhalten!
Mit anderen Sachen ist es auch so. Da hat ein Junge schlechte Zensuren gekriegt oder der Lehrer hat den Eltern einen Brief geschrieben, oder ein Kind hat zu Hause aus Versehen eine teure Vase entzweigeschlagen, und wie oft liest man dann: 'Aus Angst vor Strafe geflohen. Nirgends auffindbar. Die Eltern befürchten das Schlimmste.'
Nein, Herrschaften, so geht das nicht! Wenn man etwas angestellt hat, muß man sich zusammennehmen und Rede stehen. Wenn man so große Angst vor Strafe hat, sollte man sich das gefälligst vorher überlegen.
Selbstbeherrschung ist eine wichtige, wertvolle Eigenschaft. Und was an ihr besonders bemerkenswert ist: Selbstbeherrschung ist erlernbar. Alexander der Croße zählte, um sich nicht zu unüberlegten Taten hinreißen zu lassen, jedes mal erst bis dreißig. Also, das ist ein wunderbares Rezept. Befolgt es, wenn es nötig sein sollte!
Noch besser ist es, ihr zählt bis sechzig.
Zehntes Kapitel
Es konnte auch schiefgehen
Guten Tag, Frau Cast", sagte jemand, als sie aus dem Haus trat. "Sie sehen ja glänzend aus." Es war Pünktchen mit Piefke, und eigentlich fand das Kind Antons Mutter schrecklich blaß und aufgeregt. Aber der Junge hatte sie ja gebeten, das Aussehen seiner Mutter vortrefflich zu finden. Und sie war ein Mädchen, das Wort hielt, oho! Fräulein Andacht war mit ihrem Herrn Bräutigam bei Sommerlatte und hatte sie Punkt sechs Uhr zum Abholen bestellt.
Frau Cast blickte verstört um sich und gab Pünktchen die Hand, ohne ein Wort zu sprechen.
"Wo ist denn Anton?" fragte das Kind.
"Fort!" flüsterte Frau Cast. "Denk dir, er ist davongelaufen. Ich war böse, weil er meinen Geburtstag vergessen hatte."
"Da gratuliere ich von Herzen", sagte Pünktchen. "Ich meine, weil Sie Geburtstag haben."
"Ich danke dir", erwiderte Frau Gast. "Wo kann er nur sein?"
"Nun verlieren Sie mal nicht den Kopf", tröstete Pünktchen. "Den Jungen kriegen wir wieder. Unkraut verdirbt nicht. Was halten Sie davon, wenn wir in die Geschäfte gehen und uns überall erkundigen?" Weil die Frau nichts zu hören schien und nur immer den Kopf nach allen Seiten drehte, nahm Pünktchen Antons Mutter bei der Hand und zog sie zu dem Milchgeschäft im Nebenhaus. Ihren Dackel setzte sie auf die Straße und sagte: "Guter Hund, such den Anton!" Aber Piefke verstand wieder mal kein Deutsch.
Inzwischen kaufte Anton Schokolade.
Die Verkäuferin war eine alte Dame mit einem riesigen Kropf. Sie sah ihn mißtrauisch an, als er mit todtrauriger Miene eine Tafel von der besten Milchschokolade verlangte.
"Es ist für einen Geburtstag", sagte er niedergeschlagen.
Da wurde sie etwas freundlicher, wickelte die Schokolade schön geschenkmäßig in Seidenpapier und band ein blaßblaues Seidenband drum. "Danke verbindlichst", sagte er ernst, steckte die Tafel vorsichtig in die Tasche und zahlte. Sie gab ihm Geld heraus, und nun ging er in ein Schreibwarengeschäft.
In dem Schreibwarengeschäft suchte er sich aus dem Geburtstagsalbum eine Gratulationskarte aus. Die Karte, die er wählte, war wundervoll. Einen dicken, fidel schmunzelnden Dienstmann sah man darauf, und der Dienstmann hielt in jedem Arm einen großen Blumentopf. Zu seine Füßen stand in goldenen Buchstaben: "Die herzlichsten Glück- und Segenswünsche zum Wiegenfeste."
Anton betrachtete das schöne Bild wehmütig. Dann stellte er sich hinter das Schreibpult und malte mit mühevoller Schönschrift auf die Rückseite: "Von Deinem tiefunglücklichen Sohne Anton. Und nimm es mir nicht übel, liebe Mama, es war nicht böse gemeint." Dann klemmte er die Karte untet die blaue Schleife, die das Schokoladenpäckchen zierte, und lief schnell auf die Straße. Jetzt überkam ihn große Rührung, seines traurigen Schicksals wegen. Er fürchtete sich vor Tränen, schluckte tapfer und ging mit gesenktem Kopf weiter.