Der Mann schämte sich ein bißchen. "Na ja, schon gut", meinte er. "Sei nur nicht gleich böse." Und dann gab er ihm ein Geldstück. Es waren fünfzig Pfennig!
"Ich danke Ihnen sehr", sagte Anton und hielt ihm zwei Paar Schnürsenkel hin.
"Ich trage Zugstiefel", erklärte der Herr, zog den Hut vor dem Jungen und ging eilig weiter.
Anton freute sich und blickte über die Brücke zu sein Freundin. Hallo, war das nicht Klepperbein? Er schlug sein Köfferchen zu und rannte über die Straße, Gottfrid Klepperbein hatte sich vor Pünktchen und Fräulein Andacht postiert und musterte sie frech. Pünktchen stach dem Portiersjungen zwar die Zunge raus, doch das Kinderfräulein zitterte vor Aufregung. Anton gab dem Klepperbein einen Tritt in den Allerwertesten. Der Junge fuhr wütend herum, als er aber Anton Gast da stehen sah, erinnerte er sich der Ohrfeigen vom Nachmittag und verschwand im Dauerlauf.
"Den wären wir los", sagte Pünktchen und reichte Anton die Hand.
"Kommt!" meinte Fräulein Andacht. "Kommt, gehen ins Automatenrestaurant. Ich lade Anton ein."
"Bravo!" sagte Pünktehen, faßte den Jungen bei der Hand und lief mit ihm voraus, Fräulein Andacht rief das Mädchen zurück. "Willst du mich wohl führen? Was sollen denn die Leute denken, wenn ich trotz meiner Brille drauflosrenne?" Pünktchen faßte also das Kinderfräulein an der Hand und zog sie hinter sich her, die Brücke hinunter, die Friedrichstraße entlang, dem Oranienburger Tor zu. "Wieviel hast du verdient?" fragte sie.
"Fünfundneunzig Pfennige", sagte der Junge beirrt. "Ein Herr gab mir fünfzig Pfennig, sonst könnte überhaupt einpacken."
Pünktchen drückte ihm etwas in die Hand. "Steck ein!" flüsterte sie geheimnisvoll.
"Was ist los?" fragte Fräulein Andacht mißtrauisch.
"Sie alte Neugierde!" sagte Pünktchen. "Ich frage Sie doch auch nicht, was das für komische Zeichnungen sind, die Sie machen."
Da schwieg Fräulein Andacht, als hätte es geblitzt.
Die Straße war ziemlich leer. Das Kinderfräulein nahm die dunkle Brille ab und ließ Pünktchens Hand los. Sie bogen ein paarmal um die Ecke. Dann waren sie am Ziel.
Die sechste Nachdenkerei handelt:
Von der Armut
Vor ungefähr hundertfünfzig Jahren zogen einmal die Ärmsten der Pariser Bevölkerung nach Versailles, wo der französische König und seine Frau wohnten. Es war ein Demonstrationszug, ihr wißt ja,was das ist. Die armen Leute stellten sich vor dem Schloß auf und riefen: "Wir haben kein Brot! Wir haben kein Brot!" So schlecht ging es ihnen.
Die Königin Marie Antoinette stand am Fenster und fragte einen hohen Offizier: "Was wollen die Leute?"
"Majestät", antwortete der Offizier, "sie wollen Brot, sie haben zuwenig Brot, sie haben zu großen Hunger."
Die Königin schüttelte verwundert den Kopf. "Sie haben nicht genug Brot?" fragte sie. "Dann sollen sie doch Kuchen essen!"
Ihr denkt vielleicht, sie sagte das, um sich über die armen Leute lustig zu machen. Nein, sie wußte nicht, was Armut ist! Sie dachte, wenn zufällig nicht genug Brot da ist, ißt man eben Kuchen. Sie kannte das Volk nicht, sie kannte die Armut nicht, und ein Jahr später wurde sie geköpft. Das hatte sie davon.
Glaubt ihr nicht auch, daß die Armut leichter abgeschafft werden könnte, wenn die Reichen schon als Kinder wüßten wie schlimm es ist, arm zu sein? Glaubt ihr nicht, daß sich dann die reichen Kinder sagten: Wenn wir mal groß sind und die Banken und Rittergüter und Fabriken unserer Väter besitzen, dann sollen es die Arbeiter besser haben! Die Arbeiter, das wären ja dann ihre Spielkameraden aus der Kindheit...
Glaubt ihr, daß das möglich wäre?
Wollt ihr helfen, daß es so wird?
Siebentes Kapitel
Fräulein Andacht hat einen Schwips
In dem Lokal standen und saßen manchmal seltsame Leute, und Pünktchen kam sehr gern her, sie fand es hochinteressant. Manchmal waren sogar Betrunkene da!
Anton gähnte und machte vor Müdigkeit ganz kleine Augen. "Schrecklich", sagte er, "heute bin ich in der Rechenstunde richtiggehend eingeschlafen. Herr Bremser hat mich angeniest, daß ich fast aus der Bank gefallen wäre. Ich sollte mich schämen, hat er gerufen, und meine Schularbeiten ließen in der letzten Zeit sehr zu wünschen übrig. Und wenn das so weiterginge, würde er meiner Mutter einen Brief schreiben."
"Ach, du gerechter Strohsack", meinte Pünktchen. "Das fehlte gerade noch. Weiß er denn nicht, daß deine Mutter krank ist und daß du kochen und Geld verdienen mußt?"
"Woher soll er denn das wissen?" fragte Anton neugierig.
"Von dir natürlich", erklärte Pünktchen.
"Lieber beiß ich mir die Zunge ab", sagte Anton.
Pünktchen verstand das nicht. Sie zuckte die Achseln.
Dann wandte sie sich zu Fräulein Andacht. Die saß in ihrer Ecke und stierte vor sich hin. "Ich denke, Sie haben uns eingeladen?"
Fräulein Andacht zuckte zusammen und kam langsam zu sich. "Was wollt ihr haben?"
"Apfelsinen mit Schlagsahne", schlug Pünktchen vor, und Anton nickte. Das Fräulein stand auf und ging zum Büfett.
"Wo hast du denn das Geld her, das du mir vorhin zugesteckt hast?" fragte der Junge.
"Die Andacht gibt das Geld doch nur ihrem Bräutigam. Da habe ich 'n bißchen was unterschlagen. Pscht, keine Widerrede!" rief sie streng. "Paß auf, sie trinkt bestimmt wieder Schnaps. Sie säuft, die Gute. Du, heute saß sie in ihrem Zimmer und zeichnete mit dem Bleistift Vierecke, und in dem einen stand 'Wohnzimmer' und im anderen 'Arbeitszimmer', mehr konnte ich nicht sehen."
"Das war ein Wohnungsplan", stellte Anton fest.
Pünktchen schlug sich mit der Hand vor die Stirn. "Ich Affe", sagte sie, "und darauf bin ich nicht gekommen! Aber wozu zeichnet sie Wohnungspläne?" Das wußte Anton auch nicht. Dann kam Fräulein Andacht zurück und brachte den Kindern zerteilte Apfelsinen. Sie selber trank Kognak. "Wir müssen doch mindestens drei Mark verdient haben", erklärte sie, "Und dabei liegen nur eine Mark achtzig in der Tasche. Verstehst du das?"
"Vielleicht hat die Tasche ein Loch?" fragte Pünktchen.
Fräulein Andacht sah gleich nach. "Nein", sagte sie, "die Tasche hat kein Loch."
"Komisch", meinte Pünktchen. "Man könnte fast denken, da hat jemand geklaut." Dann seufzte sie und murmelte: "Das sind Zeiten."
Fräulein Andacht schwieg, trank ihr Glas leer, stand auf und holte sich noch einen Schnaps. "Erst stehen wir stundenlang auf der Brücke, und dann versäuft sie das ganze Einkommen", schimpfte Pünktchen hinter ihr her.
"Du solltest überhaupt lieber zu Hause bleiben", erklärte Anton. "Wenn deine Eltern mal dahinterkommen, gibt's großen Krach."
"Von mir aus", sagte Pünktchen. "Habe ich mir vielleicht das Kinderfräulein ausgesucht?"
Anton nahm eine Papierserviette, die auf dem Nebentisch lag, drehte eine kleine Tüte und legte sechs Apfelsinenschnitten hinein. Dann schloß er die Tüte in sein Handköfferchen. Und wie ihn Pünktchen fragend anschaute, sagte er verlegen: "Bloß für meine Mutter."
"Da fällt mir noch etwas ein", rief sie und kramte in ihrer kleinen Tasche. "Hier!" Sie hielt etwas in der Hand.
Er beugte sich darüber. "Ein Zahn", bemerkte er. "Ist er denn raus?"
"So eine dämliche Frage", sagte sie beleidigt. "Willst du ihn haben?"
Der Junge hatte kein rechtes Verständnis für Zähne, und so steckte sie ihn wieder ein. Dann kam Fräulein Andacht, hatte einen mittelgroßen Schwips und trieb zum Aufbruch. Sie gingen gemeinsam bis zur Weidendammer Brücke und verabschiedeten sich dort.
"Bremser heißt dein Klassenlehrer?" fragte Pünktchen.
Anton nickte.
"Morgen nachmittag besuch ich dich wieder", versprach sie. Er schüttelte ihr erfreut die Hand, machte vor Fräulein Andacht eine Verbeugung und rannte auf und davon.