Die Orcaherde, die ihn gejagt hatte wie ein Rudel hungriger Seewölfe, wendete sich von dem Boot ab und steuerte nun auf die anderen Kajakfahrer zu. Ein paar Leute hatten wohl gesehen, wie Austin gekentert und im Wasser gelandet war, aber sie hatten sich nicht nahe genug befunden, um Zeugen der Attacke zu sein. Nun, da Austin nicht mehr die Vorhut bildete, waren die anderen Rennteilnehmer verwirrt. Einige paddelten langsam weiter. Die meisten hatten jedoch die Paddel sinken lassen und im Wasser angehalten, wo sie nun trieben wie Gummienten in einer Badewanne.
Die Orcas kamen den verwirrten Rennpaddlern schnell näher. Weit beängstigender jedoch war, dass weitere Walherden in nächster Umgebung der Kajakflottille auftauchten und sich zum Angriff formierten. Die Rennteilnehmer ahnten noch nichts von der Gefahr, die sich ihnen mit gefletschten Zahnreihen näherte. Viele von ihnen kannten die Meerenge von zahlreichen Kajakausflügen und wussten, dass die Orcas harmlos waren.
Austin schob sich hinter das Lenkrad des Bootes. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen«, sagte er, während er den Gashebel nach vorne schob.
Die Erwiderung des Mannes ging im Aufheulen der beiden Außenbordmotoren unter. Schnell hob das Boot sich aus dem Wasser und glitt darüber hinweg. Austin zielte mit dem Bug auf die schmale Lücke zwischen den Kajakfahrern und den heranjagenden Rückenflossen. Er hoffte, dass der Lärm der Motoren und das Klatschen des auf die Wellen schlagenden Rumpfs die Orcas verscheuchen würde. Sein Herz blieb fast stehen, als die Walherde sich in zwei Gruppen teilte, die um ihn herumschwammen und weiter auf ihre Beute zusteuerten. Er wusste, dass Orcas miteinander kommunizierten, um ihre Attacken zu koordinieren. Innerhalb weniger Sekunden traf die Herde die Kajakflotte wie ein Torpedofächer. Sie rammten die leichten Boote mit ihren mächtigen Leibern. Mehrere Kajaks kippten einfach um, und ihre Insassen stürzten ins Wasser.
Austin drosselte das Tempo des Bootes und lenkte es zwischen die in den Wellen tanzenden Köpfe von Kindern und ihren Eltern und die messerscharfen Orcaflossen. Die White Lightning befand sich in nächster Nähe einiger gekenterter Kajaks, doch die Situation war viel zu chaotisch, als dass sie wesentliche Hilfe hätte leisten können. Austin sah, wie eine der größten Flossen sich einen Mann aussuchte, der im Wasser trieb und seine Tochter im Arm hielt. Austin würde mit dem Boot andere Paddler erwischen, wenn er versuchte, den beiden zu Hilfe zu kommen. Er wandte sich an seinen Retter.
»Haben Sie ein Harpunengewehr an Bord?«
Der kahlköpfige Mann fingerte hektisch an einem Instrumentenkasten herum, der durch ein Kabel mit dem Gerüst verbunden war. Er schaute von dem Kasten hoch und schüttelte den Kopf.
»Es ist okay«, sagte er. »Sehen Sie!« Er deutete nach vorne auf das Durcheinander gekenterter Kajaks.
Die große Rückenflosse war zur Ruhe gekommen. Sie verhielt an Ort und Stelle, wackelte verspielt im Wasser, nur wenige Schwimmzüge von dem Mann und seiner Tochter entfernt. Dann entfernte sie sich allmählich von den geborstenen Kajaks und ihren unglücklichen Insassen.
Die anderen Flossen folgten. Die übrigen Herden, die sich angriffslustig den Schiffbrüchigen genähert hatten, brachen ebenfalls ihren Angriff ab und strebten gemütlich ins offene Wasser hinaus. Der große Bulle vollführte einen hohen, ausgelassenen Sprung. Schon nach wenigen Minuten war von den Orcas nichts mehr zu sehen.
Ein Junge war von seinem Vater getrennt worden. Er schien seine Schwimmweste nicht richtig übergestreift zu haben, denn sein Kopf geriet unter Wasser. Austin beugte sich über den Bootsrand und stieß sich von der Bordwand ab. In einem eleganten Bogen tauchte er ins Wasser und kraulte auf den Jungen zu. Er erreichte ihn, kurz bevor sein Kopf ganz unter der Wasseroberfläche verschwand.
Während er den Kopf des Jungen über Wasser hielt, behielt Austin wassertretend seine Position bei. Er brauchte nur wenige Sekunden zu warten. Die White Lightning hatte ihre sich selbst aufblasenden Rettungsinseln zu Wasser gelassen, und Paddler wurden aus dem Meer gefischt. Austin reichte den Jungen seinen Rettern und vollführte im Wasser eine Drehung. Der kahlköpfige Mann und sein Boot waren verschwunden.
Kurt Austin senior war ein älteres Spiegelbild seines Sohnes. Seine breiten Schultern hingen leicht herab, aber sie sahen noch immer aus, als seien sie fähig, sich mit roher Gewalt den kürzesten Weg durch eine Mauer zu bahnen. Sein immer noch volles, platinsilbernes Haar war kürzer geschnitten als das seines Sohnes, der sich häufiger an Orten aufhielt, an denen weit und breit kein Friseur zu finden war.
Obgleich schon Mitte siebzig, hatte eine strenge Routine aus Krafttraining und ausgewogener und maßvoller Ernährung ihn schlank und fit erhalten. Er konnte noch immer Arbeitstage überstehen, die so manchen, der nur halb so alt war wie er, an den Rand der Erschöpfung gebracht hätten. Sein Gesicht war von der Sonne und vom Meer kräftig gebräunt, und seine bronzene Haut war mit einem feinen Netzwerk von Falten und Fältchen durchzogen. Seine korallenblauen Augen konnten mit löwenhafter Wildheit blitzen, aber wie die seines Sohnes schauten sie gewöhnlich mit einem Ausdruck leichten Amüsements auf die Welt ringsum.
Die beiden Austins saßen im Hauptsalon der White Lightning in üppigen Polstersesseln und hatten jeder ein mindestens halb volles Glas Jack Daniel’s in der Hand. Kurt hatte sich von seinem Vater einen maßgeschneiderten Trainingsanzug ausgeborgt. Das Wasser des Puget Sound war wie eine mit Eiswürfeln gefüllte Badewanne gewesen, und der Alkohol, der durch Kurt Juniors Kehle rann, ersetzte die Kälte in seinen äußeren Extremitäten durch angenehme Wärme.
Der Salon war in Leder und Messing eingerichtet und mit Polo- und Pferderennkunstdrucken dekoriert. Kurt fühlte sich, als ob er sich in einem jener exklusiven englischen Herrenclubs aufhielt, wo ein Mitglied in seinem Polstersessel sterben und tagelang nicht gefunden werden konnte. Sein rüstiger, unternehmungslustiger Vater war nicht gerade der Typ englischer Gentleman, und Kurt vermutete, dass die im Salon geschaffene Atmosphäre die Kanten abschleifen sollte, die er sich bei seinem Kampf um die Spitzenposition in einem konkurrenzkampfträchtigen Gewerbe geholt hatte.
Der alte Herr füllte ihre Gläser auf und bot Kurt eine kubanische Cohiba-Lanceros-Zigarre an, die dankend abgelehnt wurde. Austin senior zündete seine an und stieß eine rosige Qualmwolke aus, die seinen Kopf einhüllte.
In Kurts Gedanken herrschte noch immer ein großes Durcheinander. Er revidierte seine Entscheidung hinsichtlich der Zigarre. Während er das männliche Ritual des Anzündens absolvierte, ordnete er seine Gedanken. Er trank einen weiteren Schluck aus seinem Glas und schilderte dann sein Erlebnis.
»Verrückt!«, fasste Austin senior die Summe seiner verschiedenen Reaktionen zusammen. »Verdammt, diese Wale haben noch niemandem ein Leid zugefügt. Das weißt du selbst. Schließlich bist du seit deiner Kindheit ständig auf dem Wasser. Hast du jemals von so etwas auch nur gehört?«
»Nein.« Kurt schüttelte den Kopf. »Orcas scheinen die Nähe von Menschen regelrecht zu suchen, was mir schon immer ein Rätsel war.«
Austin senior quittierte diese Aussage mit einem kurzen Lachen. »Das ist kein Rätsel. Sie sind schlau, und sie wissen, dass wir mindestens ebenso gefährliche Raubtiere sind wie sie selbst.«
»Der einzige Unterschied ist, dass sie meistens nur töten, wenn sie Hunger haben und Nahrung brauchen.«
»Das ist richtig«, sagte Austin senior. Er wollte Whiskey nachschenken, doch Kurt winkte ab. Er hatte keinen Ehrgeiz, mit seinem Vater mitzuhalten.
»Du kennst doch so gut wie jeden in Seattle. Ist dir schon mal ein glatzköpfiger Typ mit einer Spinnentätowierung auf dem Schädel begegnet? Er dürfte in den Dreißigern sein. Bekleidet war er mit schwarzen Lederklamotten wie ein Hell’s Angel.«