Kovacs war viel zu verblüfft, um zu reagieren, selbst als die Pistole hochkam und die Mündung auf sein Herz zielte.
Marinesko konnte sein Glück kaum fassen. Er hatte auf dem Kommandoturm des S-13 gestanden und standhaft dem eisigen Wind und der Gischt getrotzt, die ihm ins Gesicht peitschte, als der dichte Schneefall nachließ und er die riesige Silhouette eines Ozeandampfers erblickte. Der Dampfer schien von einem kleineren Schiff begleitet zu werden.
Das Unterseeboot lief an der Wasseroberfläche durch schwere Seen. Seine Mannschaft befand sich auf Gefechtsstation, seit Lichter von Schiffen gesichtet worden waren, die sich von der Küste wegbewegten. Der Kapitän hatte Befehl gegeben, den Auftrieb des U-Boots zu verringern, damit es tiefer im Wasser lag und einer Radarortung entging.
Aus der Überlegung heraus, dass die Schiffe niemals einen Angriff von der Küste aus erwarten würden, befahl er seiner Mannschaft, das Boot hinter den Konvoi zu manövrieren und auf einen Kurs parallel zum Ozeandampfer und seinem Begleitschiff zu gehen. Zwei Stunden später lenkte Marinesko das S-13 auf sein Ziel zu. Während das U-Boot sich der Backbordseite des Dampfers näherte, gab er den Befehl zum Feuern.
In schneller Folge verließen drei Torpedos ihre Bugrohre und jagten dem ungeschützten Rumpf des Ozeandampfers entgegen.
Die Tür öffnete sich, und Karl betrat die Kabine. Er hatte draußen gewartet und dem Gemurmel männlicher Stimmen gelauscht. Er war verwirrt, als er eine Frau mit dem Rücken zu ihm vor sich stehen sah. Er blickte zu Kovacs, der immer noch das Handtuch festhielt, und las die Angst im Gesicht des Professors.
Der Russe spürte den Schwall kalter Luft durch die offene Tür. Er wirbelte herum und schoss, ohne zu zielen. Karl war eine Millisekunde schneller als er. Er hatte längst den Kopf gesenkt und rammte ihn dem Russen in den Leib.
Der Stoß hätte dem Schützen eigentlich die Rippen brechen müssen, doch der dicke Pelzmantel und das steife Korsett, das er trug, wirkten wie eine gepolsterte Panzerung. Der Kopfstoß trieb ihm lediglich die Luft aus den Lungen. Er krachte rückwärts auf die Koje und landete auf der Seite. Seine Perücke rutschte vom Kopf, und darunter kamen schwarze Haare zum Vorschein. Er konnte einen zweiten Schuss abfeuern, der Karls rechten Schultermuskel am Halsansatz streifte.
Karl stürzte sich auf den Schützen und streckte die linke Hand nach seiner Kehle aus. Blut aus seiner Wunde besudelte sie beide. Der Russe holte mit dem Fuß aus und trat Karl gegen die Brust. Er wurde zurückgeschleudert, stolperte und stürzte rücklings zu Boden.
Kovacs fischte sich die Suppenschüssel aus dem Waschbecken und zielte damit auf das Gesicht des Schützen. Die Schüssel prallte, ohne eine sichtbare Wirkung zu hinterlassen, von der Wange des Mannes ab. Er lachte. »Um Sie kümmere ich mich als Nächstes.« Er zielte mit der Pistole auf Karl.
Va-room!
Eine gedämpfte Explosion brachte die Wände zum Vibrieren. Der Fußboden kippte in scharfem Winkel nach Steuerbord. Kovacs wurde auf die Knie geworfen. Da er an die hochhackigen Stiefel an seinen Füßen nicht gewöhnt war, verlor der Russe das Gleichgewicht. Er fiel mit seinem gesamten Gewicht auf Karl, der die Hand des Mannes packte, sie an seinen Mund zog und seine Zähne in Knorpel und Muskeln grub. Die Pistole landete polternd auf dem Fußboden.
Va-room! Va-room!
Das Schiff erschauderte unter zwei weiteren Explosionen. Der Russe versuchte aufzustehen, verlor jedoch abermals das Gleichgewicht, als das Schiff sich diesmal nach Backbord neigte. Fast hätte er es geschafft, sicheren Stand zu finden. Karl trat ihm gegen den Fußknöchel. Der Russe stieß einen undamenhaften Schrei aus und krachte auf den Boden. Sein Kopf landete neben dem stählernen Rahmen der Koje.
Karl stemmte sich gegen die Waschbeckenrohre und rammte seinen genagelten Stiefel gegen die Kehle des Mannes und zerquetschte seinen Kehlkopf. Der Mann wehrte mit wild rudernden Armen Karls Bein ab, seine Augen quollen hervor, sein Gesicht färbte sich dunkelrot, dann violett, und dann starb er.
Karl richtete sich schwankend auf.
»Wir müssen schnellstens raus hier«, sagte er. »Das Schiff wurde von Torpedos getroffen.«
Er zog Kovacs aus der Kabine und in den Korridor, wo Chaos ausgebrochen war. Der Gang war vollgepfropft mit in Panik geratenen Passagieren. Ihre Schreie und Rufe hallten von den Wänden wider. Das schrille Klingeln der Alarmglocken steigerte den allgemeinen Lärm. Die Notbeleuchtung brannte, doch dichte Rauchschwaden von den Explosionen erschwerten die Sicht.
Der Hauptkorridor war mit einem Gewimmel entsetzter Passagiere hoffnungslos verstopft. Viele waren einfach stehen geblieben und würgten krampfhaft, nachdem sie den beißenden Qualm eingeatmet hatten.
Die Menschenmenge versuchte, sich der Wasserflut, die die Treppen herunterstürzte, entgegenzuwerfen. Karl öffnete eine neutrale Stahltür, zerrte Kovacs in einen dunklen Raum und schloss die Tür hinter sich. Der Professor spürte, wie seine Hand auf eine Leitersprosse gelegt wurde.
»Klettern Sie«, befahl Karl.
Kovacs gehorchte blindlings und stieg aufwärts, bis sein Kopf gegen eine Luke stieß. Karl rief ihm von unten zu, die Luke zu öffnen und weiterzuklettern. Sie nahmen eine zweite Leiter in Angriff. Kovacs stieß eine weitere Luke auf. Eisige Luft und vom Wind gepeitschte Schneeflocken malträtierten sein Gesicht. Er zwängte sich durch die Lukenöffnung und half dann Karl heraus.
Kovacs schaute sich verwirrt um. »Wo sind wir?«
»Auf dem Schiffsdeck. Hier entlang.«
Auf dem eisigen, schräg geneigten Deck war es gespenstisch still, verglichen mit dem Horror in der dritten Klasse. Bei den wenigen Leuten, die sie sahen, handelte es sich um die privilegierten Passagiere, deren Kabinen sich auf dem Schiffsdeck befanden. Einige drängten sich um eine mit einem Motor ausgestattete Pinasse, ein stabiles Boot, mit dem gewöhnlich Ausflüge in die norwegischen Fjorde unternommen wurden. Angehörige der Schiffsbesatzung bearbeiteten mit Äxten und Hämmern die dicke Eisschicht auf den Davits.
Als die Haken der Davits endlich freigelegt waren, schwangen die Besatzungsmitglieder sich an Bord und stießen dabei Frauen, von denen einige schwanger waren, beiseite. Kinder und verwundete Soldaten hatten keine Chance. Karl zog seine Pistole und feuerte einen Warnschuss in die Luft. Die Matrosen hielten inne, doch nur für eine Sekunde, ehe sie ihren Kampf um einen Platz im Rettungsboot fortsetzten. Karl feuerte einen weiteren Schuss ab und tötete den ersten Matrosen, der es geschafft hatte, ins Boot zu klettern. Die anderen rannten um ihr Leben.
Karl hob eine Frau und ihr Baby ins Boot, dann reichte er dem Professor eine Hand, ehe er selbst das Boot bestieg. Er ließ einige Matrosen einsteigen, damit sie den Toten hinauswerfen und das Boot zu Wasser lassen konnten. Die Haken der Halteleinen wurden gelöst und der Motor gestartet.
Das schwer beladene Boot schlingerte, während es langsam durch die See stampfte und auf die fernen Lichter eines Frachters zuhielt, der in ihre Richtung unterwegs war. Karl befahl, das Rettungsboot zu stoppen, um Menschen aufzunehmen, die im Wasser trieben. Schon bald war das Boot gefährlich überladen. Einer der Matrosen protestierte.
»Im Boot ist kein Platz mehr!«, brüllte er.
Karl schoss ihm zwischen die Augen. »Jetzt ist wieder Platz«, sagte er und befahl den anderen Matrosen, ihren toten Kameraden über Bord zu werfen. Zufrieden, dass er dieses kurze Aufbranden einer Meuterei unter Kontrolle gebracht hatte, drängte er sich neben Kovacs.
»Geht es Ihnen gut, Professor?«
»Den Umständen entsprechend.« Er starrte Karl verwundert an. »Sie sind ein erstaunlicher Mensch.«
»Ich gebe mir Mühe. Man darf seinen Feinden niemals verraten, was sie von einem zu erwarten haben.«