Austin erhöhte die Drehzahl des Propellers, und sie begannen zu steigen. Der Paraglider schaffte im Steigflug bis zu hundert Meter pro Sekunde, jedoch war seine Steigrate im Augenblick erheblich geringer, weil sie ihn im Tandembetrieb flogen. Trotzdem hatten sie schnell eine Höhe von knapp zweihundert Metern erreicht. Austin zog an der linken Leine, wodurch die Flügelspitze leicht abknickte und der Paraglider in eine weite Linkskurve ging. Mit gut vierzig Stundenkilometern steuerten sie auf die Insel zu.
Während das Land näher kam, zog Austin beide Segelspitzen nach unten, und der Paraglider ging in einen lang gestreckten Sinkflug über. Sie kamen über die rechte Sandbank herein, die den Hafen umschloss, und beschrieben eine halbe Kehre, die sie den verlassenen Strand in Richtung des Flusses überqueren ließ, den sie auf der Karte gesehen hatten. Austin entdeckte in der Nähe des Flusses ein Objekt, doch die Nebelschwaden, die den Paraglider umhüllten, machten es schwierig, Details zu erkennen.
Zavala deutete nach unten. »Da liegt ein Körper!«
Austin brachte den Paraglider tiefer herunter. Der Körper lag in einem kleinen aufblasbaren Floß, das an den Strand und ein Stück vom Fluss weg gezogen worden war. Er sah, dass die Gestalt langes graues Haar hatte. Er lenkte den Flugapparat in den Wind, schaltete den Motor aus und zog an beiden Bremsleinen.
Das Segel sollte eigentlich wie ein Fallschirm funktionieren und aufrechte Landungen ermöglichen. Aber sie kamen zu schnell und zu steil herunter. Ihre Knie gaben nach, und sie bohrten synchron ihre Nasen in den Sand, doch wenigstens waren sie unten.
Sie klappten das Segel zusammen, lösten sich aus dem Rucksackgestell und näherten sich dem Körper der Frau, der zusammengerollt in dem Floß lag. Austin ging neben dem Floß in die Knie und fühlte nach dem Puls der Frau. Er war schwach, aber sie war am Leben. Er und Zavala drehten sie behutsam auf den Rücken. Blutflecken waren auf ihrer Jacke an der linken Schulter zu sehen. Austin holte den Erste-Hilfe-Kasten aus seinem Gepäck, und Zavala öffnete die Jacke, damit sie sich die Wunde ansehen konnten. Die Frau stöhnte und schlug die Augen auf. Sie flackerten vor Angst, als sie die beiden Fremden vor sich sah.
»Es ist alles in Ordnung«, beruhigte Zavala sie mit seiner sanften Stimme. »Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.«
Austin setzte seine Feldflasche an ihre Lippen und gab ihr zu trinken.
»Mein Name ist Kurt, und das ist mein Freund Joe«, sagte Austin, als ein wenig Farbe in ihr Gesicht zurückkehrte.
»Können Sie uns verraten, wie Sie heißen?«
»Maria Arbatov«, antwortete sie mit matter Stimme. »Mein Mann …« Ihre Stimme versiegte.
»Gehören Sie zu der Expedition, Maria?«
»Ja.«
»Wo sind die anderen?«
»Tot. Alle tot.«
Austin hatte das Gefühl, als ob jemand ihm in den Bauch getreten hätte. »Was ist mit der jungen Frau? Karla Janos?«
»Ich weiß nicht, was mit ihr geschehen ist. Sie haben sie mitgenommen.«
»Dieselben Leute, die auf Sie geschossen haben?«
»Ja. Elfenbeinjäger. Sie haben meinen Mann, Sergei, getötet, und die beiden Japaner.«
»Wo ist das passiert?«
»Im alten Flussbett. Ich bin zum Lagerplatz zurückgekrochen und habe das Floß in den Fluss geschoben.« Ihre Augen flackerten, und sie wurde ohnmächtig.
Sie untersuchten die Schulter genauer. Die Wunde war nicht tödlich, aber Maria hatte eine Menge Blut verloren. Zavala säuberte und verband die Wunde. Austin rief währenddessen die Kotelny über sein Sprechfunkgerät.
»Wir haben eine verletzte Frau am Strand gefunden«, meldete er dem Kapitän.
»Miss Janos?«
»Nein. Maria Arbatov, eine der Wissenschaftlerinnen der Expedition. Sie braucht medizinische Hilfe.«
»Ich schicke sofort ein Boot mit meinem Arzt zu Ihnen rüber.«
Austin und Zavala machten es Maria Arbatov so bequem wie möglich. Das Boot traf mit dem Arzt und zwei Matrosen ein. Sie luden die Frau vorsichtig an Bord und kehrten zum Eisbrecher zurück.
Austin und Zavala hängten sich wieder in den Paraglider. Diesmal erfolgte der Start viel glatter als vom Eisbrecher aus … Sobald sie an Höhe gewonnen hatten, lenkte Austin den Paraglider am Fluss entlang. Durch Maria gewarnt, hielten sie aufmerksam Ausschau nach Elfenbeinjägern. Minuten später landeten sie weich auf dem Permafrost in der Nähe der alten Baracken und Hütten. Sie holten ihre Waffen aus den Halftern und schlichen langsam auf die Siedlung zu.
Während Joe ihm Rückendeckung gab, untersuchte Austin das Hauptzelt. Im Abfalleimer fand er frische Eierschalen, Beweis für ein kürzlich eingenommenes Frühstück. Sie warfen einen Blick ins kleinere Zelt, dann gingen sie weiter zu den Schuppen. Alle Gebäude waren unverschlossen bis auf eins. Sie zerschmetterten das Vorhängeschloss mit einem Felsbrocken. Das Schloss selbst hielt der Attacke stand, aber die Nägel, die den Verschluss um das morsche Holz herum festhielten, gaben nach. Sie öffneten die Tür und traten ein. Ein moschusartiger Tiergeruch legte sich auf ihre Schleimhäute. Der Lichtbalken, der durch die Türöffnung drang, fiel auf ein mit Pelz bedecktes Lebewesen, das auf dem Tisch ruhte.
»So etwas dürftest du im Zoo in Washington nicht zu sehen bekommen«, sagte Zavala.
Austin beugte sich über den gefrorenen Kadaver und untersuchte den kurzen Rüssel und die viel zu kleinen Stoßzähne. »Jedenfalls nicht, solange sie keine Prähistorische Abteilung eingerichtet haben. Der Größe nach zu urteilen dürfte das der Kadaver eines Mammutbabys sein.«
»Der Konservierungszustand ist unglaublich«, sagte Zavala. »Es sieht aus wie gefriergetrocknet.«
Nachdem sie das gefrorene Tier einige Minuten lang untersucht hatten, gingen sie wieder nach draußen. Austin entdeckte Stiefelabdrücke im Permafrost, die zu einem Pfad führten, der entlang des Flusses verlief. Sie starteten mit dem Paraglider von einem niedrigen Hügel und folgten dem gewundenen Verlauf des Flusses, weil sie davon ausgingen, dass Maria Arbatov nicht allzu weit von dem Wasserlauf entfernt gewesen war, als sie angeschossen wurde. Unweit einer Gabelung in einer schmalen Schlucht sah Austin schließlich drei Gestalten liegen. Er kreiste über der Gegend, fand jedoch keinerlei Anzeichen für die Anwesenheit von Elfenbeinjägern und landete deshalb in nächster Nähe zu der Erdrinne.
Sie kletterten die Böschung hinunter und näherten sich den drei Gestalten. Die drei Männer waren erschossen worden. Austin biss die Zähne zusammen, und aus seinen hellblauen Augen verflüchtigte sich auch noch der letzte Rest von Wärme. Er dachte an Maria Arbatovs qualvolle Flucht flussabwärts und schwor sich, dass wer immer dieses Werk vollbracht hatte, in voller Höhe dafür bezahlen würde.
Zavala beugte sich über Fußspuren im groben Sand. »Diese Kerle haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihre Spuren zu verwischen. Ihnen zu folgen dürfte nicht allzu schwierig sein.«
»Dann los, machen wir ihnen unsere Aufwartung«, entschied Austin.
Mit den Pistolen schussbereit in den Händen, folgten sie den Fußabdrücken durch den gewundenen Canyon. Als sie um eine Ecke bogen, stießen sie auf eine vierte Leiche.
Zavala kniete sich neben den Mann. »Eine Messerwunde zwischen den Schulterblättern. Seltsam. Dieser Gentleman wurde nicht erschossen wie die anderen Leute. Ich wüsste gerne, wer er ist.«
Austin drehte die Leiche auf den Rücken und blickte in ein unrasiertes Gesicht. »Nicht gerade die Art von Physiognomie, die man bei einer Handelskonferenz erwarten würde.«