Barrett nickte. »Kovacs war ein Hobbykryptograph. Ich fing mit der Annahme an, dass das Gedicht ein chiffrierter Text ist. Ich ging von der Vermutung aus, dass die Reimpaare im Grunde bedeutungslos waren — Buchstaben oder Worte, die in die Chiffrierung eingefügt wurden, um den Entschlüssler zu verwirren — daher überging ich sie und konzentrierte mich auf den eigentlichen Text. Eine Chiffrierung unterscheidet sich von einem Code, zu dessen Übersetzung meistens ein Codebuch notwendig ist. Um eine Chiffrierung zu knacken, braucht man einen Schlüssel, der in der Nachricht selbst versteckt ist. Und eine Zeile sprang mir regelrecht entgegen.«
»›Der Schlüssel steckt in der Tür‹«, sagte Karla, ohne lange nachzudenken.
»Genau das ist die Zeile! Es war so offensichtlich, fast schon zu offensichtlich«, sagte Barrett, »aber Kovacs war Wissenschaftler, und die haben es meistens mit der Präzision. Es wäre viel genauer gewesen, wenn er gesagt hätte, der Schlüssel steckt im Schloss.«
»Der Schlüssel steckte in dem Wort Tür«, sagte Austin.
»Das war auch mein Gedanke«, bestätigte Barrett die Vermutung. »Tür wurde mein Schlüsselwort. Man muss an das Entschlüsseln eines Codes auf unterschiedliche Weise herangehen. Zum einen hat man es mit der reinen Technik der Chiffrierung zu tun, also mit dem Ersetzen oder Verschieben von Worten oder Buchstaben. Andererseits ist da auch noch die Bedeutung der Elemente.« Als er sah, dass seine Erklärung nur ratlose Blicke auslöste, fuhr er fort: »Was tut eine Tür?«
»Das ist einfach«, sagte Karla. »Sie trennt einen Raum vom anderen. Man muss sie öffnen und schließen, wenn man hindurchgeht.«
»Richtig«, sagte Barrett. »Der Buchstabe, der das Wort eröffnet, ist das T.«
Er nahm sich eine saubere Serviette und schrieb mit seinem Kugelschreiber darauf:
TUVWXYZABCDEFGHIJKLMNOPQRS
»Damit ist die Buchstabenfolge für das Alphabet festgelegt. Ich nahm dann den letzten Buchstaben in Tür und benutzte ihn auf gleiche Weise für das Chiffrealphabet.«
»Lassen Sie mich mal versuchen«, sagte Karla. Sie nahm den Kugelschreiber und schrieb:
RSTUVWXYZABCDEFGHIJKLMNOPQ
»Ich kaufe Ihnen ein Ticket nach Bletchley Park«, sagte Barrett und spielte auf die englische Entschlüsselungszentrale während des Zweiten Weltkriegs an.
»Wenn man die Alphabete benutzt, um das Wort ›Botschaft‹ zu schreiben, erhält man nur sinnloses Zeug.« Karla betrachtete das Wort voller Enttäuschung.
»Ihr Großvater wollte es nicht zu einfach machen. Ich kam zu dem gleichen Ergebnis. Dann nahm ich mir wieder das Schlüsselwort vor. Wenn ich von der Schreibweise TUER ausgehe, da das Englische keine Umlaute kennt, befinden der erste und der letzte Buchstabe sich auf den Positionen eins und vier. Also schrieb ich jedes vierte Wort des Gedichts auf, doch mein Instinkt sagte mir, das sei zu viel. Also versuchte ich mein Glück mit jedem vierten Buchstaben. Aber da war noch immer nichts, was ich als Hinweis hätte betrachten können. Dann dachte ich, dass T und R im Alphabet durch dreiundzwanzig Buchstaben voneinander getrennt sind. Diesen Wert wendete ich auf das Gedicht an und schrieb jedes dreiundzwanzigste Wort heraus. Dann nahm ich das normale und das Chiffrealphabet zu Hilfe, um eine Kryptoanalyse vorzunehmen. Können Sie mir folgen?«
»Nein«, gestand Austin.
»Ja, das ist mir auch passiert«, sagte Barrett grinsend.
»Also habe ich gepfuscht. Ich hab den ganzen Mist durch einen Computer gejagt.« Er griff in seine Tasche und holte einen Computerausdruck hervor. »Und das habe ich herausbekommen.«
»Ein Durcheinander von Vokalen und Konsonanten, aber keine Worte«, stellte Karla fest.
»Ich habe alles versucht. So rief ich einen Professor am MIT an, der ungarisch spricht, und habe ihm alles rübergefaxt. Nichts. Dann fiel mir ein, dass Kovacs rumänisch gesprochen hat, und ich rief einen Typen an, der ein transsylvanisches Restaurant in Seattle betreibt. Er konnte sich ebenfalls keinen Reim auf die Buchstabenfolge machen. Es war zum Haare raufen, was ich auch sicher getan hätte, wenn noch welche auf meinem Kopf wären. Also kehrte ich zu den Worten zurück, die ich weggestrichen hatte, speziell zu Drunter-drüber. Ich dachte, dass sie vielleicht auf das zutrafen, was ich gerade tat.«
»Wie konnten Sie die Botschaft umdrehen?«, fragte Karla zweifelnd.
»Das konnte ich nicht. Aber ich konnte die Worte ziemlich frei interpretieren und habe sie rückwärts aufgeschrieben, so wie die zweite Zeile des Gedichts. Das tat ich. Und es ergab noch immer keinen Sinn. Dann hatte ich eine Erleuchtung. Während ich auf meinem Motorrad durch die Gegend fuhr, erkannte ich plötzlich, dass es gar keine Worte sein sollten. Es war nur eine Folge von Buchstaben. Sobald ich mir darüber klar war, kam ich zu dem Schluss, dass in der Botschaft auch Zahlen verborgen waren. Also zurück zum Computer. Bestimmte Buchstaben fungierten als Indikatoren, die andeuteten, dass der nächste Buchstabe in Wirklichkeit eine Zahl war. A, angekündigt durch einen anderen Buchstaben, heißt 1. B entspricht 2und so weiter.«
»Ich verstehe schon wieder nichts«, sagte Austin. Dem verwirrten Gesichtsausdruck Karlas nach zu urteilen, hatte sie sich ebenfalls im Land der Chiffren und Codes verwirrt.
Barrett legte den Computerausdruck beiseite und ergriff die Serviette mit beiden Händen. »Das ist eine Gleichung.«
»Eine Gleichung für was?«, fragte Austin.
»Allein für sich betrachtet ergibt die Botschaft keinen Sinn, aber wir müssen sie in einen Zusammenhang stellen. Kovacs ging davon aus, dass die Botschaft nur einer einzigen Person zugänglich sein würde: Karla. Er dachte, sie habe das Gedicht stets zur Verfügung, wenn es gebraucht würde.«
»Könnte es sein, dass Sie genau das meinen, was ich denke?«, fragte Austin.
»Ich bin erst vor ein paar Minuten daraufgekommen, daher kann ich mir erst sicher sein, wenn ich einen Test durchgeführt habe«, sagte Barrett. »Aber es ist durchaus möglich, dass Kovacs uns eine Reihe elektromagnetischer Frequenzen mitgeteilt hat.«
»Die Gegenmaßnahme«, flüsterte Karla.
Austin griff nach der Serviette, hob sie vom Tisch hoch und behandelte sie, als könnte sie jeden Moment zerfallen.
»Ist das etwa die Frequenz, die einen Polsprung rückgängig machen kann?«
Barretts Adamsapfel führte einen nervösen Tanz auf.
»Verdammt, ich hoffe es«, sagte er heiser.
Karla beugte sich vor und küsste Barrett mitten auf seinen kahlen Schädel. »Sie haben es geschafft!«
Für jemanden, der soeben die Welt gerettet hatte, sah Barrett ziemlich mutlos aus. »Schon möglich. Ich fürchte nur, dass wir nicht mehr viel Zeit haben.«
»Was meinen Sie?«, fragte Austin.
»Nach unserem Treffen habe ich mir die Telefongespräche angehört, die durch die Wanze übertragen wurden, die Sie auf Gants Landsitz verstecken konnten. Er und Margrave haben sich unterhalten. Mittlerweile haben sie das Land verlassen.«
»Verdammt.« Austin biss sich auf die Lippen. »Wo sind sie hin?«
»Keine Ahnung. Margrave hat sich mir gegenüber niemals über die Pläne für die letzte Phase geäußert. Aber ich mache mir weniger Sorgen darüber, wo etwas passieren könnte, als vielmehr darüber, was passieren wird. Ich denke, sie sind im Begriff, den Polsprung tatsächlich einzuleiten.«
»Können Sie abschätzen, wie viel Zeit uns bleibt?«
»Schwer zu sagen«, erwiderte Barrett. »Der Zielort befindet sich im Südatlantik. Ich war bei den letzten Gesprächen nicht mehr zugegen, daher kenne ich den genauen Ort nicht. Sobald sie in Position sind, ist es nur noch eine Frage von Stunden, ehe sie auf den Knopf drücken.«