»Wenn es eine derart blühende Gesellschaft war, weshalb ist sie untergegangen?«
»Vielleicht ist sie gar nicht untergegangen. Vielleicht ist sie ganz einfach an einen anderen Ort umgezogen und bildete dort die Basis für eine ganz andere Gesellschaft. Es gibt Hinweise, dass sowohl Europäer wie auch Asiaten Nordamerika bevölkert haben.«
Während Schroeder sich die aus Karlas Analyse ergebenden Schlussfolgerungen durch den Kopf gehen ließ, waren hinter ihnen aus Richtung des Stadttors aufgeregte Stimmen zu vernehmen. Er drehte sich um und schaute zurück. Lichtpunkte bewegten sich im Bereich des großen Platzes. Die Elfenbeinjäger waren ebenfalls auf die Stadt gestoßen.
»Wir sind hier draußen im Freien eine leichte Beute für unsere Verfolger«, sagte Schroeder. »Wir können sie leicht abschütteln, wenn wir diese schöne Avenue schnellstens verlassen.«
Er schlüpfte in eine Gasse, die zu einer schmalen Seitenstraße führte. Hier waren die Häuser kleiner als auf dem Hauptboulevard. Keins war höher als ein Stockwerk. Sie schienen eher als Wohnhäuser gedient zu haben und waren keine großartigen, für bestimmte Zeremonien reservierte Gebäude, wie sie die Hauptstraße säumten.
Als ehemaliger Soldat hatte Schroeder mit einem Blick ihre Verteidigungsmöglichkeiten beurteilt. Die Stadt war ein riesiges Labyrinth von Hunderten von Straßen. Selbst bei dem ständig vorhandenen Lichtschein, der die Stadt einhüllte, würden ihre Verfolger sie niemals fangen können, wenn sie nur wachsam waren und ständig in Bewegung blieben. Gleichzeitig war Schroeder sich bewusst, dass sie nicht ewig auf der Flucht sein könnten. Irgendwann würde ihnen die Nahrung und das Wasser ausgehen. Oder ihr Glück.
Er hatte die Absicht, zur anderen Seite der Stadt zu gelangen. Er hatte die Hoffnung, gestützt durch die relativ gute Luftqualität, dass dort ein Ausweg existierte. Die Menschen, die diese unterirdische Metropole erbaut hatten, schienen dies mit einer gewissen Logik und Vernunft getan zu haben. Daraus folgerte er, dass es nur logisch und vernünftig war, wenn es mehr als nur eine Möglichkeit gab, die Stadt zu betreten und wieder zu verlassen. Sie hatten die Stadt fast zur Hälfte durchquert, als Karla einen erschreckten Schrei ausstieß.
Sie krampfte ihre Finger um Schroeders Arm, und er riss die Maschinenpistole von seiner Schulter. »Was ist los?« Er ließ den Blick über die stummen Hausfassaden gleiten, als ob er erwartete, die grinsenden Gesichter der Elfenbeinjäger hinter den Fenstern zu sehen.
»Jemand ist diese Gasse dort hinuntergerannt.«
Schroeder folgte ihrem Finger mit den Augen. Obgleich die Gebäude ihr eigenes Licht produzierten, standen sie dicht beieinander, und der wenige Platz zwischen ihnen lag in tiefem Schatten.
»Etwas oder jemand?«
»Ich — ich weiß es nicht.« Sie lachte. »Vielleicht bin ich schon zu lange hier unten.«
Schroeder hatte schon immer seinen Sinnen mehr vertraut als seinen analytischen Fähigkeiten. »Warte hier«, sagte er. Er näherte sich der Gasse, wobei er den Finger am Abzug hatte. Er schlich sich an die Mündung der Gasse heran, schob den Kopf um die Ecke und knipste die Taschenlampe an. Nach ein paar Sekunden machte er kehrt und kam zurück. »Nichts«, sagte er.
»Tut mir leid. Dann habe ich es mir nur eingebildet.«
»Komm«, sagte er und ging zu Karlas Überraschung auf die Gasse zu.
»Wo willst du hin?«
»Falls da draußen irgendetwas ist, dann sollten lieber wir uns anschleichen als umgekehrt.«
Karla zögerte. Ihr erster Impuls war gewesen, in die andere Richtung zu flüchten. Aber Schroeder schien zu wissen, was er tat. Sie beeilte sich, ihn einzuholen.
Die Gasse führte zu einer anderen Straße, die ähnlich mit Gebäuden gesäumt war. Ansonsten war sie verlassen. Zu sehen waren kleine gedrungene Bauten, deren Fenster wie tote Augen in das seltsame Zwielicht blickten. Schroeder überprüfte seinen inneren Kompass und schlug abermals eine Richtung ein, von der er hoffte, dass sie auf diesem Weg das andere Ende der Stadt erreichen würden.
Nachdem sie ein paar Blocks weit gegangen waren, blieb Schroeder plötzlich stehen und brachte seine Maschinenpistole in Anschlag. Nach ein paar Sekunden ließ er die Waffe sinken und rieb sich die Augen. »Dieses seltsame Licht macht mich noch verrückt. Jetzt fange ich sogar schon an, irgendwelche Dinge zu sehen. Bei mir war es jemand, der von einer Straßenseite auf die andere rannte.«
»Nein. Ich habe es ebenfalls gesehen«, sagte Karla. »Es war groß. Ich glaube nicht, dass es ein Mensch war.«
Schroeder setzte den Weg fort. »Das ist gut. Mit Menschen haben wir nämlich in der letzten Zeit wenig Glück gehabt.«
Karlas Nase fing einen vertrauten moschusartigen Geruch auf. In dem Schuppen, in dem das Mammutjunge lag, hatte es genauso gerochen. Schroeders Schleimhäute hatten den Geruch ebenfalls wahrgenommen.
»Das riecht wie in einer Scheune«, sagte er.
Die Mischung aus Morast, Tieren und Mist wurde intensiver, während sie durch die Gasse zu einer weiteren Straße gingen. Diese Straße endete auf einem Platz ähnlich dem, den sie am Eingang zur Stadt gesehen hatten. Dieser Platz hier hatte einen rechteckigen Grundriss mit einer Seitenlänge von ungefähr siebzig Metern. Ebenso wie der erste Platz wurde er von einer etwa zwanzig Meter hohen Stufenpyramide beherrscht. Was Karlas Aufmerksamkeit jedoch viel mehr fesselte, war die unmittelbare Umgebung der Pyramide.
Im Gegensatz zum ersten Platz, dessen Pflaster aus den gleichen leuchtenden Steinen bestand wie die restliche Stadt, sah dieser Platz hier aus, als ob er mit einer dichten Schicht Unkraut oder Gras bedeckt wäre. Karlas erster Eindruck war, dass sie einen unbearbeiteten Garten vor sich hatte, wie man sie manchmal in öffentlichen Parks sehen kann. Das ergab keinen Sinn, wenn man sich den Mangel an Sonnenlicht vor Augen hielt. Von ihrer natürlichen Neugier angetrieben, ging sie auf die Pyramide zu.
Die Vegetation begann sich zu bewegen.
Schroeders vom Alter müde Augen hatten Schwierigkeiten, in dem Zwielicht etwas zu erkennen, aber die Bewegung entging ihm nicht. Das jahrelange Training meldete sich. Ihm war beigebracht worden, dass die beste Versicherung, wenn man sich einer möglichen Gefahr gegenübersieht, immer ein Bleivorhang ist. Er trat vor Karla und brachte die Maschinenpistole in der Hüfte in Anschlag. Sein Finger spannte sich um den Abzug, während er sich innerlich darauf vorbereitete, den Platz mit einem Bleiregen einzudecken.
»Nein!«, schrie Karla.
Sie legte eine Hand auf seine Brust.
Der Platz geriet in Wallung, und aus der sich bewegenden Masse drang ein Schnauben und ein Ächzen und das Geraschel schwerer Körper, die anfingen, sich zu bewegen. Was ausgesehen hatte wie Vegetation, löste sich auf und wurde durch große pelzige Klumpen von den Ausmaßen großer Schweine ersetzt.
Schroeder starrte die Kreaturen an, die sich auf dem Platz drängten. Sie hatten kurze Rüssel und aufwärtsgerichtete Stoßzähne, und ihre Körper waren mit Pelz bedeckt. Die Bedeutung dessen, was er sah, dämmerte ihm nur langsam.
»Elefantenbabys!«
»Nein«, sagte Karla, die trotz ihrer namenlosen Aufregung erstaunlich ruhig war. »Es sind Zwergmammuts.«
»Das kann nicht sein. Mammuts sind ausgestorben.«
»Ich weiß, aber sieh genau hin.« Sie richtete die Taschenlampe auf die Tiere. Ein paar blickten zum Licht und zeigten ihre glänzenden runden Augen, die bernsteinfarben schimmerten. »Elefanten haben keinen solchen Pelz.«
»Das ist unmöglich«, sagte Schroeder, als hätte er Schwierigkeiten, sich selbst zu überzeugen.
»Nicht ganz. Spuren von Zwergmammuts, die auf der Wrangelinsel gefunden wurden, ließen sich bis 2000 vor Christus zurückdatieren. Das ist nur ein winziger Moment in der langen Erdgeschichte. Aber du hast Recht, wenn du sagst, es sei unglaublich. Näher als bis an die versteinerten Knochen ihrer Vorfahren bin ich an diese Tiere noch nie herangekommen.«