Der Kapitän wusste, dass sein Schiff mit der Welle fertig würde, wenn die Bellemit dem Bug hineintauchte, um ihr die Wucht einer Breitseite zu nehmen. Der Kapitän befahl dem Steuermann, den Autopiloten darauf zu programmieren, den Bug direkt auf die Welle auszurichten und vorerst diesen Kurs zu halten. Dann ergriff er das Mikrofon und betätigte einen Schalter auf dem Armaturenbrett, der die Brücke mit allen auf dem Schiff verteilten Lautsprechern verband.
»Alle Mann Achtung! Hier spricht der Kapitän. Eine Monsterwelle wird gleich aufs Schiff treffen. Jeder sucht sich einen sicheren Ort, möglichst weit entfernt von losen, eventuell herumfliegenden Gegenständen, und wartet ab. Der Aufprall wird heftig. Ich wiederhole. Der Aufprall wird heftig.«
Als Vorsichtsmaßnahme befahl er dem Funker, einen SOS-Ruf abzusetzen. Das Schiff konnte immer noch eine Entwarnung senden, falls der Hilferuf sich als unnötig erweisen sollte.
Die grüne, mit weißen Schaumflocken gekrönte Welle war noch etwa einen Kilometer vom Schiff entfernt. »Sehen Sie sich das an«, sagte Butler. Der Himmel wurde von einer Serie greller Lichterscheinungen erhellt. »Blitze?«
»Schon möglich«, erwiderte der Kapitän. »Viel mehr Sorgen macht mir allerdings dieser verdammte Brecher!«
Das Profil der Welle war mit nichts zu vergleichen, was der Kapitän je in seinem Leben gesehen hatte. Im Gegensatz zu den meisten Wellen, die von der oberen Kante schräg abfallen, war diese von oben bis unten völlig glatt und gerade wie eine sich vorwärtsschiebende Wand.
Der Kapitän hatte den seltsamen Eindruck einer außerkörperlichen Wahrnehmung. Ein Teil von ihm betrachtete die heranrollende Welle auf eine desinteressierte, eher wissenschaftliche Art und Weise, fasziniert von ihrer Höhe und ihrer geballten Energie, während der andere Teil, über die ungeheure, drohende Wucht staunend, hilflos dastand.
»Sie wächst sogar noch«, murmelte Butler mit einem Ausdruck unverhohlener kindlicher Ehrfurcht.
Der Kapitän nickte. Er schätzte die Höhe der Welle mittlerweile auf gut dreißig Meter, fast dreimal so hoch wie zu dem Zeitpunkt, als er sie entdeckt hatte. Sein Gesicht war aschfahl. Sein solides, unerschütterliches Selbstvertrauen bekam deutliche Risse. Ein Schiff mit den Ausmaßen der Bellekonnte nicht auf der Stelle wenden, und sie lag immer noch ziemlich schräg zu der Welle, als sie sich aufzubäumen schien wie ein lebendiges Wesen.
Er erwartete den Aufprall der Welle und war völlig unvorbereitet, als sich vor ihm im Ozean ein Abgrund öffnete, der groß genug war, um sein Schiff zu verschlingen.
Der Kapitän starrte fassungslos in die Grube, die vor seinen Augen erschienen war. Das ist das Ende der Welt, dachte er.
Das Schiff kippte in den gigantischen Trog, glitt an seiner Innenwand hinab und bohrte den Bug in den Ozean. Der Kapitän stürzte nach vorne gegen die vorderen Schotts.
Anstatt frontal zuzuschlagen, kippte die Welle von oben auf das Schiff und begrub es unter Tausenden Tonnen Wasser.
Die Fenster des Steuerhauses implodierten unter dem Druck, und der gesamte Atlantische Ozean schien sich in die Brücke zu ergießen. Die Wassermassen erwischten den Kapitän und die anderen Männer auf der Brücke mit der Gewalt von hundert Feuerwehrschläuchen. Die Brücke verwandelte sich in ein Gewirr von Armen und Beinen. Bücher, Schreibstifte und Sitzpolster wurden herumgewirbelt.
Ein Teil des Wassers strömte durch die Fenster hinaus, und der Kapitän kämpfte sich zurück zum Steuerstand. Sämtliche Kontrollmonitore waren tot. Radar, Kreiselkompasse und Funkanlage des Schiffs waren ausgefallen. Aber was viel schlimmer war, auch die Energiezufuhr war unterbrochen. Alle Instrumente waren durch Kurzschluss lahmgelegt. Die Steuerelektronik war nutzlos.
Der Kapitän ging zum Fenster, um das Ausmaß der Schäden zu begutachten. Der Bug war zerstört, und das Schiff hatte Schlagseite. Er vermutete, dass der Rumpf ein Leck aufwies. Die Rettungsboote auf dem Vorderdeck waren aus den Davits gerissen worden. Das Schiff schlingerte wie ein betrunkenes Flusspferd.
Die Riesenwelle schien das Meer aufgewühlt zu haben wie ein Demagoge, der den Straßenmob zur Raserei aufstachelt. Brecher rollten über das Vorderdeck. Weitaus gefährlicher war, dass das Schiff, da seine Maschinen stillstanden, in eine schlimmstmögliche Position quer zu den auflaufenden schweren Seen trieb.
Nachdem es die Welle überstanden hatte, lag das Schiff wie ein waidwundes Tier auf der Seite, bereit, den Gnadenschuss zu erhalten oder, wie es im bildhaften Jargon der Seefahrt hieß, »abzusaufen«.
Der Kapitän bemühte sich, seinen Optimismus zu behalten. Die Southern Bellekonnte überleben, auch wenn einige ihrer Sektionen überflutet waren. Jemand hatte sicherlich den SOS-Ruf gehört. Wenn nötig, konnte das Schiff tagelang treiben, bis Hilfe eintraf.
»Käpt’n!« Der Erste Offizier unterbrach seine Gedanken.
Butler blickte durch das geborstene Fenster. Seine Augen starrten ungläubig auf einen fernen Punkt. Der Blick des Kapitäns folgte Butlers ausgestrecktem Finger, und er begann zu zittern, als er von Angst übermannt wurde.
In weniger als vierhundert Metern Entfernung entstand eine weitere horizontal verlaufende Schaumkrone.
Das erste Flugzeug traf zwei Stunden später ein. Es kreiste über dem Meer und erhielt bald Gesellschaft in Gestalt anderer Flugzeuge. Dann näherten sich die ersten Hilfsschiffe, die ihre jeweiligen Routen verlassen hatten. Die Schiffe hielten Abstände von fünf Kilometern zueinander und durchkämmten das Meer wie ein Suchtrupp, der in einem Wald nach einem verlaufenen Kind Ausschau hält. Selbst nach tagelanger Suche fanden sie nichts.
Die Southern Belle,eins der modernsten und leistungsfähigsten Frachtschiffe, die je konstruiert und gebaut wurden, war ganz einfach spurlos verschwunden.
2
Der pfeilschlanke Kajak flog über die saphirblaue Oberfläche des Puget Sound, als wäre er von einer Bogensehne abgeschossen worden. Der breitschultrige Mann in dem engen Sitz schien mit dem Holzboot zu einer Einheit verwachsen zu sein. Er tauchte die Schaufeln seines Paddels mit lockeren, fließenden Bewegungen ins Wasser und konzentrierte die Kraft seiner muskulösen Arme in präzis abgezirkelte Züge, die den Kajak mit gleichmäßigem Tempo vorwärtstrieben.
Schweiß glänzte auf den markanten, sonnenverbrannten Gesichtszügen des Bootsfahrers. Seine durchdringenden, hellblauen Augen, die an die Farbe von Korallen unter Wasser erinnerten, erfassten die weite Fläche der Meerenge, die nebelverhangenen San Juan Islands und, in der Ferne, die schneebedeckten Olympic Mountains. Kurt Austin pumpte die salzige Luft in seine Lungen und verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen. Es tat gut, zu Hause zu sein.
Austins Pflichten als Direktor des Spezialteams für Sonderaufgaben bei der National Underwater and Marine Agency führten ihn ständig an die abgelegensten Orte der Welt. Verliebt ins Meer und alles, was damit zu tun hat, hatte er sich jedoch in den Gewässern um Seattle, wo er geboren war. Der Puget Sound war ihm so vertraut wie ein alter Jugendschwarm. Er war auf der Meerenge gesegelt, seit er laufen konnte, und an einem Rennen hatte er das erste Mal im Alter von zehn Jahren teilgenommen. Seine große Liebe gehörte Rennbooten. Er besaß vier davon: einen Acht-Tonnen-Katamaran, der Geschwindigkeiten von über hundertsechzig Kilometern in der Stunde schaffte, ein kleineres Außenbord-Hydroplane, ein Zwanzig-Fuß-Segelboot und ein Rennskiff, mit dem er am liebsten frühmorgens auf dem Potomac ruderte.
Der letzte Zuwachs seiner Flotte war ein maßgefertigter Guillemot-Kajak. Er hatte ihn während einer früheren Reise nach Seattle gekauft. Ihm gefielen die Holzkonstruktion und die elegante Form des schlanken Rumpfs, der sich an einem auf den Aleuten gebräuchlichen Bootstyp orientierte. Wie all seine Boote war es schnell und schön zugleich.