Joona weiß genau, dass es sich um einen Selbstmord handelt, und versucht sich zu sagen, dass der Fall nichts für die Landeskripo ist. Trotzdem würde er nur zu gern zum Fundort eilen und ihn sich noch einmal ansehen, ihn untersuchen, jedes Zimmer durchgehen und überprüfen, ob er etwas übersehen hat.
Während seines Gesprächs mit der Haushälterin hatte er gedacht, sie wäre verwirrt, dass sich der Schock wie dichter Nebel um sie gelegt, sie konfus und verdächtig gemacht hätte, weshalb sie ihm so eigenartig und unzusammenhängend geantwortet hatte. Doch jetzt versucht Joona, die Sache genau umgekehrt zu sehen. Vielleicht war sie ja gar nicht verwirrt, gar nicht geschockt, sondern hatte seine Fragen möglichst konkret beantwortet. Wenn das zutreffen sollte, behauptete die Haushälterin, Edith Schwartz, dass jemand Carl Palmcrona bei der Schlinge geholfen hatte, dass es helfende Hände, hilfsbereite Menschen gegeben hatte. Wenn es so war, dann erzählte sie, dass sein Tod kein selbst verschuldetes Ereignis gewesen war, dass er seinen Tod nicht alleine herbeigeführt hatte.
Irgendetwas stimmt da nicht.
Er weiß, dass er recht hat, kann das Gefühl aber nicht greifen.
Joona betritt die Herrenumkleide, schließt seinen Schrank auf, holt das Handy heraus und ruft den Chef der Pathologie Nils Åhlén an.
»Ich bin noch nicht fertig«, lauten Åhléns erste Worte.
»Es geht um Palmcrona. Was ist dein erster Eindruck, auch wenn du …«
»Ich bin noch nicht fertig«, unterbricht Åhlén ihn.
»Auch wenn du noch nicht fertig bist.«
»Komm am Montag vorbei.«
»Ich komme jetzt«, erwidert Joona.
»Um fünf wollen meine Frau und ich uns eine Couch ansehen.«
»Ich bin in fünfundzwanzig Minuten bei dir.« Joona beendet das Gespräch, bevor Åhlén Zeit hat zu wiederholen, dass er noch nicht fertig ist.
Als Joona geduscht und sich umgezogen hat, hört er Stimmengewirr von lachenden und plappernden Kindern und begreift, dass bald die Schwimmschule im Landespolizeiamt beginnt.
Er überlegt, was es bedeutet, dass der Generaldirektor der Staatlichen Waffenkontrollbehörde erhängt aufgefunden wurde. Die Person, die letztlich alle wichtigen Entscheidungen über Herstellung und Ausfuhr von Kriegswaffen in Schweden trifft, ist tot.
Was ist, wenn ich mich irre, was ist, wenn er doch ermordet wurde?, fragt sich Joona. Ich muss mit Pollock sprechen, bevor ich zu Åhlén fahre, vielleicht sind er und Kofoed schon dazu gekommen, sich das Material von der Tatortuntersuchung anzusehen.
Joona geht mit großen Schritten durch den Korridor, läuft eine Treppe hinunter und ruft seine Assistentin Anja Larsson an, um sich zu erkundigen, ob Nathan Pollock im Haus ist.
9
Über Nahkampf
Joonas dichte Haare sind immer noch klatschnass, als er die Tür zu Saal 11 öffnet, wo Nathan Pollock vor einer exklusiven Gruppe von Männern und Frauen, die eine Spezialausbildung für den Einsatz bei Geiselnahmen absolvieren, eine Vorlesung hält.
An die Wand hinter Pollock ist mithilfe eines Notebooks eine anatomische Tafel vom menschlichen Körper projiziert worden. Auf einem Tisch liegen sieben verschiedene Handfeuerwaffen aufgereiht, angefangen bei einer kleinen silbrigen Sig Sauer P238 bis zu einem mattschwarzen Sturmgewehr der Marke Heckler & Koch mit einem 40-Millimeter-Granatwerfer.
Einer der jungen Polizisten steht vor Pollock, der ein Messer zieht, es verdeckt am Körper hält, nach vorn eilt, einen Schnitt an der Kehle des Polizisten andeutet und sich anschließend an die Gruppe wendet.
»Der Nachteil eines solchen Schnitts besteht darin, dass der Feind unter Umständen schreit, dass die Bewegungen seines Körpers nicht kontrolliert werden können und das Verbluten eine gewisse Zeit dauert, weil nur eine Arterie geöffnet wird«, erläutert Pollock.
Er tritt erneut zu dem jungen Polizisten und legt den Arm so um sein Gesicht, dass sich die Armbeuge um den Mund des Mannes schließt.
»Wenn ich dagegen so vorgehe, kann ich einen möglichen Schrei ersticken, den Kopf kontrollieren und beide Arterien mit einem einzigen Schnitt öffnen«, erklärt er.
Pollock lässt den jungen Polizisten los und sieht, dass Joona Linna an der Tür steht. Er muss hereingekommen sein, als er den Griff demonstriert hat. Der junge Polizist streicht sich über den Mund und kehrt zu seinem Platz zurück. Pollock lächelt breit und winkt Joona zu, weil er möchte, dass dieser nach vorne kommt, aber Joona schüttelt den Kopf.
»Ich müsste mal kurz mit dir reden, Nathan«, sagt er leise.
Einige Polizisten drehen sich um und sehen ihn an. Pollock geht zu ihm, und sie geben sich die Hand. Joonas Jackett ist von dem Wasser, das ihm in den Nacken gelaufen ist, dunkel verfärbt.
»Tommy Kofoed hat bei Palmcrona Fußabdrücke gesichert«, sagt Joona. »Ich muss wissen, ob er dabei etwas Unerwartetes gefunden hat.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so eilig ist«, antwortet Nathan mit gedämpfter Stimme. »Wir haben natürlich alle Folienabdrücke fotografiert, sind aber noch nicht dazu gekommen, die Ergebnisse auszuwerten. Ich habe nicht den geringsten Überblick …«
»Aber du hast etwas gesehen.«
Als ich die Bilder auf dem Computer abgespeichert habe … Es könnte da ein Muster geben, aber es ist noch zu früh, um …«
»Sag es einfach – ich muss los.«
»Es gibt anscheinend Abdrücke von zwei verschiedenen Schuhpaaren in zwei Kreisen rund um den Körper.«
»Begleite mich zu Åhlén«, bittet Joona ihn.
»Jetzt?«
»Ich muss in zwanzig Minuten da sein.«
»Mist, ich kann nicht«, erwidert Nathan und macht eine Geste in den Raum hinein. »Aber mein Handy ist an, falls du mich etwas fragen musst.«
»Danke«, sagt Joona, dreht sich zur Tür um und will gehen.
»Du möchtest dieser Truppe hier nicht kurz Guten Tag sagen?«, erkundigt sich Nathan.
Alle haben sich bereits umgedreht, und Joona winkt den Beamten kurz zu.
»Das hier ist Joona Linna, von dem ich euch schon erzählt habe«, sagt Nathan Pollock mit erhobener Stimme. »Ich versuche, ihn zu überreden, eine Gastvorlesung über Nahkampf zu halten.«
Es wird still, alle sehen Joona an.
»Die meisten von euch wissen wahrscheinlich deutlich mehr über Kampfsport als ich«, sagt Joona schmunzelnd. »Aber eins habe ich immerhin gelernt … wenn es ernst wird, gelten plötzlich völlig andere Regeln, dann ist es nur noch Kampf und kein Sport.«
»Hört gut zu«, sagt Pollock.
»In der Realität überlebt man nur, wenn man in der Lage ist, sich neuen Gegebenheiten anzupassen und sie zum eigenen Vorteil zu nutzen«, fährt Joona ruhig fort. »Trainiert, diese Gegebenheiten auszunutzen. Ihr befindet euch beispielsweise in einem Auto oder auch auf einem Balkon. Der Raum könnte voller Tränengas sein, der Fußboden ist vielleicht von Glasscherben übersät. Verschiedene Waffen könnten im Spiel sein. Vielleicht befindet ihr euch am Anfang einer Ereigniskette, vielleicht an deren Ende. Vermutlich muss man mit seinen Kräften haushalten, um weiterarbeiten zu können, unter Umständen eine ganze Nacht lang … Sprungtritte oder coole Roundkicks kommen da nicht infrage.«
Einige der Polizisten lachen.
»Bei einem Nahkampf ohne Waffen«, fährt Joona fort, »geht es oft darum, ein gewisses Maß an Schmerz zu akzeptieren, um den Kampf schnell zu beenden, aber … so gut kenne ich mich da auch wieder nicht aus.«
Joona verlässt den Hörsaal. Zwei Polizisten klatschen. Die Tür schließt sich und es wird still im Raum. Nathan Pollock lächelt in sich hinein, als er zum Tisch zurückkehrt.
»Ich hatte eigentlich vorgehabt, den folgenden Filmausschnitt für eine spätere Gelegenheit aufzuheben«, sagt er und klickt etwas auf dem Bildschirm seines Computers an. »Diese Aufnahme ist heute schon ein Klassiker. Sie stammt von der Geiselnahme in der Nordea-Bankfiliale in der Hamngatan vor neun Jahren. Zwei Bankräuber. Joona Linna hat die Geiseln bereits befreit und einen der Täter, der mit einer Uzi bewaffnet war, unschädlich gemacht. Es war ein ziemlich heftiger Schusswechsel. Der zweite Täter hat sich versteckt, ist aber nur mit einem Messer bewaffnet. Die Täter haben alle Überwachungskameras zugesprayt, diese jedoch übersehen … Wir sehen uns das Ganze in Zeitlupe an, denn es geht nur um ein paar Sekunden.«