Die Landung geschieht fast unmerklich, der Hubschrauber schwebt auf der Stelle, senkt sich langsam und steht schließlich sanft wippend auf der Plattform. Während sich die Rotorblätter immer langsamer drehen, warten sie. Der Pilot bleibt im Cockpit, während der zweite Mann Axel Riessen über die Plattform mit den aufgemalten Kreisen führt. Sie ducken sich im Luftzug, bis sie durch eine Glastür getreten sind. Das Geräusch des Hubschraubers verschwindet fast völlig hinter dem Glas. Der Raum, in dem sie sich befinden, erinnert an ein elegantes Wartezimmer mit Sitzmöbeln, einem Couchtisch und einem dunklen Fernsehapparat. Ein weiß gekleideter Mann heißt sie willkommen, deutet auf die Sitzmöbel und bittet Axel, Platz zu nehmen.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragt der Weißgekleidete.
»Ein Wasser, bitte«, antwortet Axel.
»Mit oder ohne Kohlensäure?«
Ehe Axel antworten kann, betritt ein weiterer Mann den Raum.
Er ähnelt dem ersten, der neben dem Hubschrauberpiloten saß. Beide Männer sind groß und breitschultrig, haben seltsam gleichartige und synchronisierte Körper. Der neue Mann hat weißblonde Haare, fast weiße Augenbrauen und eine Nase, die einmal gebrochen gewesen ist. Der erste ist grauhaarig und trägt eine Hornbrille.
Sie bewegen sich wortlos, effektiv und sparsam, während sie Axel zu den Suiten unter Deck begleiten.
Die Luxusjacht wirkt seltsam verlassen. Axel sieht flüchtig, dass der Pool leer und scheinbar seit vielen Jahren nicht mehr mit Wasser gefüllt gewesen ist. Auf seinem Boden liegen einige schadhafte Möbelstücke, eine Couch ohne Polster und ausrangierte Bürostühle.
Axel Riessen fällt auf, dass die hübschen Rattanmöbel auf einer kleinen Empore vernachlässigt worden sind. Das feine Flechtwerk ist gerissen, und überall an den Sesseln und dem Tisch stehen lose Halmenden ab.
Je weiter er in die Jacht hineingelangt, desto mehr erscheint sie ihm wie eine leere, zerstörte Schale. Axels Schritte hallen auf dem zerkratzten Marmorboden des leeren Korridors wider. Sie treten durch eine Doppeltür, in deren dunkles Holz kunstvoll die Worte »Sala da pranzo« geschnitzt wurden.
Der Speisesaal ist riesig. Durch die Panoramafenster sieht man nichts als offene See. Eine breite Treppe mit einem roten Teppich führt in die nächste Etage hinauf. An der Decke hängen prachtvolle Kronleuchter. Der Raum ist für große Gesellschaften konzipiert, aber auf dem Esstisch stehen lediglich ein Kopierer, ein Faxgerät, zwei Computer und eine große Zahl von Ordnern.
Am hinteren Ende des Speisesaals sitzt an einem nicht sonderlich großen Tisch ein kleiner Mann. Er hat grau melierte Haare, und mitten auf seinem Scheitel prangt ein großer kahler Fleck. Axel erkennt in ihm augenblicklich Raphael Guidi. Er trägt eine schlabberige hellblaue Trainingshose und eine dazugehörige Jacke mit der Ziffer sieben auf Brust und Rücken. Seine nackten Füße stecken in weißen Turnschuhen.
»Herzlich willkommen«, sagt der Mann in kantigem Englisch.
Es klingelt in seiner Tasche, er zieht ein Handy heraus, mustert die Nummer, nimmt das Gespräch nicht an. Unmittelbar darauf wird Guidi erneut angerufen, meldet sich, sagt einige Worte auf Italienisch und sieht anschließend Axel Riessen an. Er macht eine Geste in Richtung der dunklen, wogenden Meeresweiten hinter den Panoramafenstern.
»Ich bin nicht freiwillig hier«, beginnt Axel.
»Das bedauere ich, dazu fehlte die Zeit …«
»Also, was wollen Sie?«
»Ich möchte Ihre Loyalität gewinnen«, antwortet Raphael Guidi kurz.
Es wird still, und die beiden Leibwächter lächeln mit gesenktem Blick, werden dann jedoch wieder vollkommen ernst. Raphael Guidi trinkt einen Schluck seines gelben Vitamingetränks und rülpst lautlos.
»Loyalität ist das Einzige, was zählt«, sagt er leise und sieht Axel in die Augen. »Sie haben vorhin behauptet, ich hätte nichts, was Sie haben wollen, aber …«
»Das ist wahr.«
»Aber ich glaube, dass ich Ihnen ein gutes Angebot machen kann«, fährt Guidi fort und verzieht das Gesicht zu einer freudlosen Grimasse, die an ein Lächeln erinnern soll. »Ich weiß, wenn ich Ihre Loyalität gewinnen will, muss ich Ihnen etwas anbieten, was Sie wirklich haben wollen, vielleicht muss es sogar das sein, was Sie sich am meisten wünschen.«
Axel schüttelt den Kopf.
»Ich weiß ja selber kaum, was ich mir am meisten wünsche.«
»Ich denke schon, dass Sie das wissen«, erwidert Raphael Guidi. »Sie wünschen sich, wieder schlafen, ganze Nächte durchschlafen zu können, ohne …«
»Woher wissen Sie …?«
Er verstummt abrupt, und Guidi wirft ihm einen kühlen, ungeduldigen Blick zu.
»Dann wissen Sie mit Sicherheit auch, dass ich nichts unversucht gelassen habe«, sagt Axel ruhig.
Der Waffenhändler macht eine nonchalante Geste.
»Sie bekommen eine neue Leber.«
»Ich stehe bereits auf der Warteliste für eine neue Leber«, erklärt Axel mit einem unfreiwilligen Lächeln. »Wenn sich der Transplantationsrat getroffen hat, rufe ich jedes Mal an, aber mein Leberschaden ist selbst verschuldet und mein Gewebetyp so ungewöhnlich, dass es praktisch keine Spender gibt …«
»Ich habe eine Leber für Sie, Axel Riessen«, behauptet Guidi.
Es wird still, und Axel spürt, dass seine Wangen rot anlaufen, seine Ohren zu glühen beginnen.
»Und was verlangen Sie dafür als Gegenleistung von mir?«, fragt Axel und schluckt schwer. »Sie wollen, dass ich die Ausfuhrgenehmigung für Kenia unterzeichne.«
»Ja, ich möchte, dass wir einen Paganini-Vertrag schließen«, erwidert Raphael Guidi.
»Was ist …«
»Nichts überstürzen, Sie müssen sich das gut überlegen, es ist eine wichtige Entscheidung, Sie müssen sich die detaillierten Informationen zum Organspender anschauen und so weiter.«
Blitzschnell schießen die Gedanken durch Axel Riessens Kopf. Er denkt, dass er die Ausfuhrgenehmigung unterschreiben kann und sobald er die neue Leber bekommen hat, wird er gegen Raphael Guidi aussagen. Man wird ihn beschützen, das weiß er, vielleicht wird er eine neue Identität annehmen müssen, aber er wird wieder schlafen können.
»Wollen wir nicht essen? Ich habe Hunger, Sie auch?«, fragt Guidi.
»Vielleicht …«
»Aber bevor wir essen, möchte ich, dass Sie Ihre Sekretärin bei der Kontrollbehörde anrufen und ihr Bescheid geben, dass Sie hier sind.«
100
Pontus Salman
Saga hält ihr Handy ans Ohr und bleibt im Flur neben einem großen Plastikbehälter für Altpapier stehen. Geistesabwesend betrachtet sie die blattähnlichen Reste eines Schmetterlings, die auf dem Fußboden liegen und im Windzug der Belüftung zittern.
»Habt ihr in Stockholm eigentlich nichts anderes zu tun?«, fragt sie ein Mann mit einem starken gotländischen Akzent, als sie mit der Polizei von Södertälje verbunden wird.
»Es geht um Pontus Salman«, sagt sie.
»Mag sein, aber der ist schon weg«, erklärt der Polizist zufrieden.
»Was zum Teufel soll das heißen?«, fragt sie.
»Also, ich habe mit Gunilla Sommer gesprochen, der Psychologin, die mit ihm in die psychologische Notaufnahme gefahren ist.«
»Und?«
»Sie hatte nicht den Eindruck, dass er seine Selbstmorddrohung ernst meinte, also hat sie ihn gehen lassen, Therapieplätze sind ja nicht gerade gratis und …«
»Geben Sie eine Fahndung nach ihm heraus«, fällt Saga dem Mann ins Wort.
»Und weshalb? Wegen eines halbherzigen Selbstmordversuchs?«
»Finden Sie ihn einfach«, erwidert Saga und beendet das Gespräch.
Sie ist auf dem Weg zum Aufzug, als Göran Stone sich ihr mit ausgebreiteten Armen in den Weg stellt.
»Du willst Pontus Salman vernehmen, stimmt’s?«, fragt er sie neckisch.
»Ja«, antwortet sie kurz und will weitergehen, aber er lässt sie nicht durch.
»Du brauchst nur mit dem Hintern zu wackeln«, sagt er, »und vielleicht ein bisschen deine Locken zu schütteln, und schon wirst du befördert oder …«