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»Geh mir aus dem Weg«, sagt Saga wütend, rote Punkte flammen auf ihrer Stirn auf.

»Okay, ich bitte vielmals um Entschuldigung dafür, dass ich dir helfen wollte«, sagt Göran Stone beleidigt. »Aber wir haben gerade vier Streifenwagen zu Salmans Haus auf Lidingö geschickt, weil …«

»Was ist passiert?«, fragt Saga schnell.

»Die Nachbarn haben die Polizei gerufen«, antwortet er lächelnd. »Anscheinend haben sie ein bisschen Pengpeng und Schreie gehört.«

Saga stößt ihn zur Seite und läuft los.

»V ielen Dank, Göran«, ruft er ihr hinterher. »Du bist der Beste, Göran!«

Während sie Richtung Lidingö fährt, muss sie ständig daran denken, was passiert sein könnte, aber ihre Überlegungen vermischen sich immer wieder mit der Tonbandaufnahme von dem Mann, der weinend von seiner Tochter erzählt.

Saga nimmt sich vor, am Abend hart zu trainieren und früh zu Bett zu gehen.

Sie kommt nicht in den Roskullsvägen, weil zu viele Menschen auf der Straße sind, sodass sie ihren Wagen zweihundert Meter von Salmans Haus entfernt abstellen muss. Schaulustige und Journalisten drängeln sich an den blauweißen Absperrungsbändern und versuchen, einen Blick auf Salmans Haus zu werfen. Als sie sich durch die Menge zwängt, entschuldigt Saga sich mit gestresster Stimme. Die Blaulichter der Einsatzfahrzeuge pulsieren über den grünen Bäumen. Ihre Kollegin Magdalena Ronander stützt sich an der dunkelbraunen Backsteinwand ab und übergibt sich. Pontus Salmans Auto steht in der Garagenauffahrt. Es ist ein weißer BMW, dessen Schiebedach fehlt. Kleine blutige Glasstücke liegen auf der Karosserie und rund um das Auto verteilt. Durch das blutverschmierte Seitenfenster erkennt man vage einen männlichen Körper.

Es ist Pontus Salman.

Magdalena blickt erschöpft auf, wischt sich den Mund mit einem Taschentuch ab und hält Saga auf, als diese auf die Haustür zustrebt.

»Nein, oh nein«, sagt sie heiser. »Du willst da auf keinen Fall reingehen.«

Saga bleibt stehen, wirft einen Blick in das große Haus, wendet sich Magdalena zu, um sie etwas zu fragen. Doch dann denkt sie nur noch daran, dass sie Joona anrufen und ihm mitteilen muss, dass sie keinen Zeugen mehr haben.

101

Das Mädchen mit der Pusteblume

Joona läuft durch die Ankunftshalle des Flughafens Vanda vor den Toren Helsinkis, als sein Telefon klingelt.

»Saga, was ist los?«

»Pontus Salman ist tot, er sitzt im Auto vor seinem Haus, es sieht so aus, als hätte er sich erschossen.«

Joona gelangt ins Freie, geht zum ersten Taxi in der Schlange, sagt dem Fahrer, dass er zum Hafen muss, und setzt sich nach hinten.

»Was hast du gesagt?«, fragt Saga.

»Nichts.«

»Wir haben keinen Zeugen mehr«, meint Saga. »Was zum Teufel sollen wir jetzt tun?«

»Ich weiß es nicht«, erwidert Joona und schließt für einen Moment die Augen.

Er spürt die Bewegungen des Autos, ein sanftes Federn, Schaukeln. Das Taxi verlässt das Flughafengelände, beschleunigt und fährt auf die Autobahn auf.

»Du kannst nicht ohne Verstärkung zu Guidis Jacht hinausfahren …«

»Das Mädchen«, sagt Joona plötzlich.

»Was?«

»Axel Riessen hat mit einem Mädchen Geige gespielt«, sagt Joona und öffnet seine grauen Augen. »Sie könnte etwas gesehen haben.«

»Wie kommst du darauf?«

»Da stand ein Löwenzahnstängel, eine Pusteblume in einem Whiskyglas …«

»Wovon redest du eigentlich, verdammt noch mal?«, fragt Saga.

»Versuch einfach, sie zu finden.«

Joona lehnt sich zurück und denkt an Axel Riessen zurück, der mit seiner Geige in der Hand im Garten stand, als das Mädchen mit einem Strauß Löwenzahn kam. Dann erinnert er sich nochmals an die Pusteblume, deren Stängel über den Rand des Whiskyglases in Axel Riessens Schlafzimmer hing. Sie ist da gewesen, gut möglich also, dass sie etwas gesehen hat.

Joona geht an Bord des grauen Küstenpatrouillenboots Kirku, das die finnische Marine sechs Jahre zuvor von der Küstenwache übernehmen durfte. Als er Pasi Rannikko, dem Kapitän des Schiffs, die Hand gibt, wandern seine Gedanken augenblicklich zu Lennart Johansson von der Wasserschutzpolizei auf Dalarö, dem leidenschaftlichen Surfer, der sich Lance nannte.

Pasi Rannikko ist genau wie Lance ein junger, braun gebrannter Mann mit hellblauen Augen. Im Gegensatz zu Lance nimmt er seinen Posten jedoch ausgesprochen ernst. Der überraschende Auftrag außerhalb der finnischen Hoheitsgewässer bereitet ihm offensichtlich Sorge.

»Ich kann an diesem Ausflug nichts Gutes finden«, bemerkt er trocken. »Aber mein Befehlshaber ist ein Kumpel Ihres Chefs … und das hat offenbar gereicht.«

»Ich rechne damit, dass wir die Entscheidung des Staatsanwalts bekommen, während wir unterwegs sind«, sagt Joona und spürt die Vibrationen, als das Schiff vom Pier ablegt und geschmeidig Kurs aufs offene Meer nimmt.

»Sobald Sie Ihren Haftbefehl haben, setze ich mich mit der FNS Hanko in Verbindung. Das ist ein Flugkörperschnellboot mit zwanzig Offizieren und sieben Wehrpflichtigen.«

Er zeigt Joona die Position des Schiffs auf dem Radarschirm.

»Es kann eine Geschwindigkeit von bis zu 35 Knoten erreichen, sodass es nicht einmal zwanzig Minuten braucht, bis es uns eingeholt hat.«

»Gut.«

»Raphael Guidis Jacht hat Dagö hinter sich gelassen und befindet sich ein gutes Stück vor Estland … Ich hoffe, es ist Ihnen bewusst, dass wir in estnischen Gewässern nicht an Bord eines Schiffes gehen können, wenn es sich nicht um einen Notfall oder offen kriminelle Aktivitäten handelt.«

»Ja«, antwortet Joona.

Mit grollenden Maschinen verlässt das Boot das Hafengelände.

»Da kommt die komplette Besatzung«, sagt Pasi Rannikko.

Ein Hüne mit einem blonden Bart steigt die Treppe zur Kommandobrücke hinauf. Er ist er erste und einzige Steuermann und stellt sich als »Niko Kapanen, wie der Eishockeyspieler« vor. Er schielt zu Joona hinüber, kratzt sich am Bart und fragt behutsam:

»Was wirft man diesem Guidi eigentlich vor?«

»Freiheitsberaubung, Mord, Polizistenmord, Waffenschmuggel«, antwortet Joona.

»Und Schweden schickt einen einzigen Polizisten?«

»Ja«, erwidert Joona und lächelt.

»Und wir stellen einen unbewaffneten alten Kahn zur Verfügung.«

»Sobald uns das Okay der Staatsanwaltschaft vorliegt, haben wir fast einen Zug Männer«, erklärt Pasi Rannikko. »Ich rede mit Urho Saarinen von der Hanko, und er ist in zwanzig Minuten bei uns.«

»Aber was ist mit einer Inspektion«, sagt Niko. »Wir dürfen doch verdammt noch mal ein Schiff inspi– …«

»Nicht in estnischen Gewässern«, unterbricht Pasi Rannikko ihn.

»Zum Kotzen«, brummt Niko.

»Das wird schon«, sagt Joona.

102

Wenn das Bild umgedreht wird

Axel Riessen liegt angekleidet auf dem Bett des Schlafzimmers, das zu der Fünfzimmersuite gehört, die man ihm auf Raphael Guidis riesiger Jacht zugeteilt hat. Neben ihm liegt die Mappe mit den ausführlichen Informationen zu dem Organspender, einem Mann, der nach einer missglückten Operation im Koma liegt. Alle Werte sind perfekt – der Gewebetyp passt haargenau zu Axels.

Er starrt an die Decke und spürt das Herz in seiner Brust pochen. Als es an die Tür klopft, zuckt er zusammen. Es ist der weiß gekleidete Mann, der ihn nach dem Hubschrauberflug in Empfang genommen hat.

»Abendessen«, sagt der Mann.

Gemeinsam durchqueren sie einen Fitnessbereich. Axels Blick schweift flüchtig über im Boden versenkte Badewannen voller leerer Flaschen und Bierdosen. Noch in Plastik verpackte Handtücher liegen in eleganten Regalen aus weißem Marmor an den Wänden. Hinter Milchglaswänden erahnt man eine Sporthalle. Eine Doppeltür aus mattem Metall gleitet lautlos auf, als sie an einer Lounge mit beigem Teppichboden, Sitzmöbeln und einem flachen, aber massiven Tisch aus geschliffenem Kalkstein vorbeikommen. Ein eigentümliches, düsteres Zwielicht liegt über dem Raum und erzeugt gleitende Schatten und Lichtflecken auf Wänden und Boden. Axel schaut auf und sieht, dass sie sich unter dem großen Swimmingpool der Jacht befinden. Der Grund des Beckens besteht aus Glas, und über dem Müll und den ausrangierten Möbeln sieht man den bleichen Himmel.