»Ich sammele Streichinstrumente, die sich noch daran erinnern, wie … Nein«, unterbricht Guidi sich. »Ich will es anders formulieren … Wenn diese Instrumente richtig behandelt werden, kann man die Sehnsucht einer verlorenen Seele hören.«
»Mag sein«, sagt Axel.
»Ich bin stets sehr darauf bedacht, an diese Sehnsucht zu erinnern, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, den Vertrag zu schließen«, fährt Guidi fort und lächelt freudlos. »Ich versammele die Beteiligten, wir hören Musik, diesen einzigartigen, traurigen Klang, und dann schreiben wir einen Vertrag in der Luft, mit unseren Wünschen und Albträumen als Einsatz … das ist ein Paganini-Vertrag.«
»Ich verstehe.«
»Tun Sie das?«, fragt Raphael Guidi. »Von diesem Vertrag kann man niemals zurücktreten, nicht einmal durch den eigenen Tod. Wer versucht, die Abmachungen zu brechen, oder sich das Leben nimmt, weiß, dass sein schlimmster Albtraum in Erfüllung gehen wird.«
»Und was soll ich Ihrer Meinung nach darauf erwidern?«, fragt Axel.
»Ich sage nur … Es ist kein Vertrag, den man bricht, und ich … wie soll ich mich ausdrücken?«, fragt Guidi sich zögernd. »Ich sehe nicht, welche Vorteile es für mich und meine Geschäfte haben sollte, wenn Sie mich fälschlicherweise für einen netten Menschen halten würden.«
Raphael Guidi geht zur Wand, an der ein großer Fernsehapparat hängt. Er zieht eine glänzende Scheibe aus der Hosentasche und legt sie in einen DVD-Player. Peter setzt sich auf den Rand einer Couch. Der Junge sieht die Männer im Raum scheu an. Er ist blond, sieht seinem Vater überhaupt nicht ähnlich. Sein Körper ist nicht breit und untersetzt, eher feingliedrig, und sein Gesicht ist sensibel.
Das Bild ist körnig und voller Streifen. Axel empfindet greifbare, rein körperliche Angst, als er drei Personen aus der Tür einer Backsteinvilla treten sieht. Zwei Personen erkennt er sofort: Kriminalkommissar Joona Linna und Saga Bauer. Die dritte ist eine junge Frau mit lateinamerikanischen Gesichtszügen.
Axel Riessen schaut auf den Bildschirm und sieht Joona Linna ein Handy aus der Tasche ziehen und telefonieren. Es scheint sich niemand zu melden. Mit verschlossenen Mienen steigen die drei in einen Wagen und fahren davon.
Die Kamera bewegt sich wackelnd zu der Tür, sie wird geöffnet, das Licht verschwindet in der plötzlichen Dunkelheit und wird im nächsten Moment automatisch reguliert. In dem Flur stehen zwei große Koffer. Die Kamera bewegt sich in die Küche, schwenkt dann nach links, eine Treppe hinab und durch einen gekachelten Gang bis in einen großen Raum mit einem Schwimmbecken. Eine Frau in einem Badeanzug sitzt in einem Liegestuhl, und eine zweite Frau mit kurzen Haaren telefoniert stehend.
Die Kamera zieht sich in einer scheuen Bewegung zurück, wartet das Ende des Telefonats ab, hält sich verborgen, bis die Frau mit der Pagenfrisur nicht mehr spricht, und bewegt sich dann wieder vorwärts. Man hört Schritte, und die Frau mit dem Telefon wendet ihr müdes und trauriges Gesicht der Kamera zu und erstarrt. Ein Ausdruck großer Angst legt sich auf ihr Gesicht.
»Ich glaube nicht, dass ich mehr sehen will, Papa«, sagt Guidis Sohn mit schwacher Stimme.
»Jetzt fängt es doch erst richtig an«, antwortet der Waffenhändler.
Plötzlich wird der Bildschirm dunkel, die Kamera wird ausgeschaltet, aber das Bild kehrt noch in derselben Sekunde zurück, flimmert und stabilisiert sich wieder. Die Kamera ist inzwischen auf einem Stativ befestigt. Die beiden Frauen sitzen nebeneinander an die gekachelte Wand gelehnt auf dem Fußboden. Auf einem Stuhl vor ihnen sitzt Pontus Salman. Er scheint schnell zu atmen, sein Körper bewegt sich unruhig.
Die eingeblendete Uhr zeigt an, dass die Aufnahme erst vor einer Stunde gemacht wurde.
Ein schwarz gekleideter Mann, dessen Gesicht hinter einer Kapuze verborgen ist, geht zu Veronique, packt ihre Haare und zwingt sie, in die Kamera zu schauen.
»Entschuldige, entschuldige, entschuldige«, sagt Guidi mit piepsiger Stimme.
Axel sieht ihn fragend an, dann hört er Veronique Salmans Stimme.
»Entschuldige, entschuldige, entschuldige.«
Vor Angst ist ihre Stimme abgehackt.
»Ich hatte doch keine Ahnung«, piepst Guidi und zeigt auf den Bildschirm.
»Ich hatte doch keine Ahnung«, fleht Veronique. »Ich habe das Foto gemacht, aber ich habe es nicht böse gemeint, ich wusste nicht, wie dumm das war, ich dachte nur …«
»Du musst wählen«, sagt der Mann mit der Kapuze zu Pontus Salman. »Wem soll ich ins Knie schießen? Deiner Frau … oder deiner Schwester?«
»Bitte, tun Sie das nicht«, flüstert Salman.
»Auf wen soll ich schießen?«, fragt der Mann.
»Auf meine Frau«, antwortet Salman fast lautlos.
»Pontus«, fleht seine Frau. »Bitte, lass ihn nicht …«
Pontus Salman beginnt krampfhaft zu weinen.
»Es wird wehtun, wenn ich auf sie schieße«, warnt der Mann.
»Lass nicht zu, dass er das tut!«, schreit Veronique in panischer Angst.
»Hast du es dir anders überlegt? Soll ich lieber auf deine Schwester schießen?«
»Nein«, antwortet Salman.
»Bitte mich darum.«
»Was haben Sie gesagt?«, fragt Salman mit verzerrtem Gesicht.
»Bitte mich ganz lieb, es zu tun.«
Es wird still, und dann hört Axel Pontus Salman sagen.
»Würden Sie bitte … meiner Frau ins Knie schießen.«
»Wenn du mich ganz lieb darum bittest, kann ich ihr auch in beide schießen«, sagt der Mann und legt seine Pistole auf Veronique Salmans Bein.
»Lass nicht zu, dass er das tut«, schreit sie. »Bitte, Pontus …«
Der Mann feuert seine Waffe ab, man hört einen kurzen Knall, und das Bein flattert kurz auf. Blut spritzt auf die Kacheln. Eine Wolke aus Pulverdampf verflüchtigt sich um die Pistole. Veronique schreit, bis ihre Stimme bricht. Er feuert die Waffe noch einmal ab. Der Rückstoß lässt den Lauf der Pistole hochfedern. Das zweite Knie wird getroffen, und das Bein knickt in einem absurden Winkel um.
Veronique schreit erneut, heiser und fremd, ihr Körper zuckt vor Schmerz, und Blut fließt auf die Fliesen unter ihr.
Pontus Salman übergibt sich, und der Mann mit der Kapuze sieht ihn mit fragenden, verträumten Augen an.
Veronique rutscht mit dem Oberkörper zur Seite, atmet schnell und versucht, mit den Händen ihre verletzten Beine zu erreichen. Die andere Frau scheint unter Schock zu stehen, ihr Gesicht ist grünlich blass, und ihre Augen sind nur große schwarze Löcher.
»Deine Schwester ist psychisch gestört, nicht wahr?«, fragt der Mann neugierig. »Meinst du, sie kapiert, was hier vorgeht?«
Tröstend tätschelt er Pontus Salmans Kopf und sagt dann:
»Soll ich deine Schwester vergewaltigen oder deine Frau erschießen?«
Pontus Salman antwortet nicht, er sieht aus, als würde er das Bewusstsein verlieren. Seine Augen verdrehen sich, und der Mann schlägt ihm ins Gesicht.
»Antworte mir, soll ich deine Frau erschießen oder deine Schwester vergewaltigen?«
Pontus Salmans Schwester schüttelt den Kopf.
»Vergewaltige sie«, flüstert Veronique zwischen ihren hechelnden Atemzügen. »Bitte, bitte, Pontus, sag ihm, dass er sie vergewaltigen soll.«
»Vergewaltige sie«, flüstert Salman.
»Wie bitte?«
»Vergewaltige meine Schwester.«
»Okay, gleich«, sagt der Mann.
Axel Riessen schaut zu Boden, zwischen seine Füße. Er kämpft darum, etwas anderes zu hören als das Wimmern aus dem Film, das Flehen, die rohen, grauenvollen Schreie. Er versucht, seinen Kopf mit der Erinnerung an Musik zu füllen, versucht, die Räume zu verstehen, die bei Bach entstehen, Räume, die von Helligkeit, von stürzenden Lichtstrahlen erfüllt sind.
Schließlich wird es still. Axel blickt zu dem Film auf. Die beiden Frauen liegen tot an der Wand. Er sieht den Mann mit der Kapuze, der keuchend mit einem Messer in der einen Hand und einer Pistole in der anderen Hand vor der Kamera steht.
»Dein Albtraum hat sich erfüllt – jetzt kannst du dir das Leben nehmen«, sagt der Mann im Film, wirft Pontus Salman die Pistole zu und tritt aus dem Bild, hinter die Kamera.