105
Die Zeugin
Saga Bauer verlässt Magdalena Ronander und steigt über die Absperrungsbänder. Immer mehr Schaulustige haben sich versammelt, das schwedische Fernsehen ist mit einem Übertragungswagen eingetroffen, ein Schutzpolizist versucht, die Leute zurückzudrängen, um einen Krankenwagen durchzulassen.
Saga lässt das alles hinter sich, geht einen Plattenweg im Garten irgendwelcher Nachbarn hinauf und an einem Jasminbaum vorbei. Sie geht immer schneller, und das letzte Stück zum Auto läuft sie quer über den Rasen.
»Das Mädchen«, hatte Joona am Telefon gesagt. »Du musst das Mädchen finden. Da war ein Mädchen bei Axel Riessen. Er nannte sie Beverly. Rede mit Robert, seinem Bruder. Sie ist ungefähr fünfzehn Jahre alt, sie muss irgendwie aufzutreiben sein.«
»Wie viel Zeit bleibt mir, den Staatsanwalt zu überzeugen?«
»Nicht viel«, hatte Joona geantwortet. »Aber du schaffst das.«
Während Saga in die Stadt zurückfährt, ruft sie Robert Riessen an, aber es meldet sich keiner. Sie ruft in der Telefonzentrale des Landeskriminalamts an und bittet darum, mit Joonas Assistentin verbunden zu werden, die einmal bei den olympischen Schwimmwettbewerben eine Medaille gewonnen hat und auf ihren übertrieben lackierten Fingernägeln und glänzenden Lippenstiften beharrt.
»Anja Larsson«, hört Saga nach kurzem Klingeln.
»Hallo, hier spricht Saga Bauer vom Staatsschutz, wir sind uns neulich begegnet …«
»Ja, ich weiß«, sagt Anja kühl.
»Ich wollte fragen, ob Sie ein Mädchen für mich finden können, dass möglicherweise Beverly Andersson heißt und …«
»Soll ich das dem Staatsschutz in Rechnung stellen?«
»Machen Sie verdammt noch mal, was Sie wollen, Hauptsache, Sie rücken mit einer Scheißtelefonnummer heraus, bevor …«
»Sie vergreifen sich im Ton, junge Dame.«
»Vergessen Sie einfach, dass ich gefragt habe.«
Saga flucht und hupt lang gezogen ein Auto an, das nicht losfährt, obwohl die Ampel auf Grün steht. Sie will das Gespräch schon wegdrücken, als sie Anjas Stimme hört.
»Wie alt ist sie?«
»Etwa fünfzehn.«
»Zu einer Beverly Andersson gibt es keine Telefonnummer. Möglich, dass auf sie kein Festnetzanschluss registriert ist, jedenfalls steht sie in keinem Telefonbuch … das Einzige, was ich finde, ist die Telefonnummer ihres Vaters.«
»Okay, ich rufe ihn an. Können Sie mir die Nummer simsen?«
»Schon passiert.«
»Danke, vielen Dank … Entschuldigen Sie, dass ich ein bisschen ungeduldig bin, aber ich mache mir Sorgen um Joona, dass er vielleicht eine Dummheit begeht, wenn er keine Verstärkung bekommt.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Er hat mich gebeten, nach dem Mädchen zu suchen. Ich bin ihr nie begegnet, ich weiß nicht … Er verlässt sich darauf, dass ich das regele, aber ich …«
»Rufen Sie Beverlys Vater an, ich suche weiter«, sagt Anja und legt auf.
Saga fährt im Stadtteil Hjorthagen rechts heran und ruft die Nummer an, die Anja ihr geschickt hat. Die Vorwahl 0418 gehört zu der südschwedischen Region Schonen. Möglicherweise Svalöv, denkt sie und wartet.
106
Der Vater
In einer Holzküche in Schonen schreckt ein Mann auf, als das Telefon klingelt. Er ist gerade erst hereingekommen, nachdem er über eine Stunde damit verbracht hat, eine junge Kuh zu befreien, die entlaufen war und sich im Stacheldraht des Nachbarn verfangen hatte. Evert Andersson hat Blut an den Fingern, Blut, das er an seiner blauen Arbeitskleidung abgewischt hat.
Als es klingelt, hindern ihn nicht nur seine schmutzigen Kleider daran, an den Apparat zu gehen, sondern auch das Gefühl, dass es in diesem Moment niemanden gibt, mit dem er gerne sprechen würde. Er beugt sich vor, wirft einen Blick auf das Display und sieht, dass die Rufnummer unterdrückt wird, wahrscheinlich wieder so ein Verkäufer mit affektierter Stimme.
Er wartet, bis es nicht mehr klingelt, aber kurz darauf beginnt das Telefon von Neuem zu klingeln. Evert Andersson schaut noch einmal auf das Display und meldet sich schließlich.
»Andersson.«
»Hallo, ich heiße Saga Bauer«, hört er eine gestresste Frauenstimme sagen. »Ich bin Polizistin, Kommissarin beim Staatsschutz. Eigentlich suche ich Ihre Tochter, Beverly Andersson.«
»Was ist passiert?«
»Sie hat nichts angestellt, aber ich glaube, dass sie über wichtige Informationen verfügt, die uns helfen könnten.«
»Und jetzt ist sie verschwunden?«, fragt Andersson schwach.
»Ich habe mir gedacht, dass Sie mir vielleicht ihre Telefonnummer geben können«, erwidert Saga.
Evert denkt, dass er seine Tochter früher als seine Nachfolgerin betrachtet hat, die den Hof in der nächsten Generation weiterführen würde, die hier in seinem Haus, seinen Scheunen und Wirtschaftsgebäuden und auf seinen Äckern arbeiten und sich auf dem Hof bewegen würde, wie ihre Mutter es getan hat, in einem Ledermantel, die Haare in einem Zopf auf der Schulter.
Aber Beverly hatte schon als Kind etwas Fremdes, das ihm Angst machte.
Sie wurde älter und immer eigener. Sie war anders als er, anders als ihre Mutter. Als sie noch ein Kind von acht oder neun Jahren war, hatte er sie einmal im Stall überrascht. Sie saß in einer leeren Box auf einem umgedrehten Eimer und sang mit geschlossenen Augen vor sich hin. Sie hatte sich im Klang ihrer eigenen Stimme verloren. Eigentlich hatte er sie anschreien wollen aufzuhören, nicht so albern zu sein, aber die heitere Miene auf dem Gesicht des Kindes hatte ihn verwirrt. Von jenem Moment an wusste er, dass es in ihr etwas gab, was er niemals verstehen würde. Daraufhin hörte er auf, mit ihr zu sprechen. Sobald er etwas zu sagen versuchte, verschwanden die Worte.
Nach dem Tod ihrer Mutter herrschte auf dem Hof vollkommene Stille.
Beverly begann, sich herumzutreiben, war manchmal stundenlang verschwunden, gelegentlich auch einen ganzen Tag. Die Polizei brachte sie von irgendwoher nach Hause, ohne dass sie hätte sagen können, wie sie dort gelandet war. Sie ging mit jedem mit, wenn man nur freundlich mit ihr sprach.
»Es gibt nichts, was ich ihr sagen möchte. Was soll ich da mit einer Telefonnummer?«, sagt er in seinem rauen und abweisenden schonischen Dialekt.
»Sind Sie sicher, dass …«
»Leute aus Stockholm verstehen so etwas nicht«, unterbricht er sie und legt auf.
Er betrachtet seine Finger auf dem Hörer, sieht das Blut auf den Knöcheln, den Schmutz unter den Nägeln, entlang des Nagelbetts, in jeder Furche der rauen Haut. Langsam geht er zu einem grünen Sessel, greift nach der glänzenden Beilage der Zeitung und beginnt, darin zu lesen. Am Abend wird eine Sendung zum Gedenken an den Fernsehstar Ossian Wallenberg ausgestrahlt. Evert lässt die Zeitung zu Boden fallen, als er von seinen eigenen Tränen überrascht wird. Ihm ist plötzlich eingefallen, dass Beverly oft neben ihm auf der Couch gesessen und über den Klamauk in »Der goldene Freitag« gelacht hat.
107
Das leere Zimmer
Saga Bauer flucht vor sich hin und bleibt im Auto sitzen. Sie schließt die Augen und schlägt ein paar Mal mit der Hand auf das Lenkrad. Langsam wiederholt sie innerlich, dass sie sich konzentrieren und weitermachen muss, ehe es zu spät ist. Sie ist so in Gedanken versunken, dass sie zusammenzuckt, als das Telefon klingelt.
»Ich bin’s«, sagt Anja Larsson. »Ich verbinde Sie mit Herbert Saxéus in der Sankta-Maria-Hjärta-Klinik«, sagt sie kurz.
»Okay, was …«
»Saxéus war während der zwei Jahre, die Beverly in der Klinik verbracht hat, ihr Arzt.«
»Danke, das war …«
Aber Anja hat Saga bereits mit einer anderen Leitung verbunden.
Saga wartet, hört es klingeln. Sankta Maria Hjärta, denkt sie und erinnert sich, dass die Klinik in Torsby, östlich von Stockholm liegt.
»Herbert Saxéus«, sagt eine warme Stimme an ihrem Ohr.
»Hallo, ich heiße Saga Bauer, ich bin Polizistin, Kommissarin beim Staatsschutz. Ich muss mit einem Mädchen sprechen, das Ihre Patientin gewesen ist, Beverly Andersson.«