Es wird kurz still in der Leitung.
»Geht es ihr gut?«, fragt der Arzt dann.
»Keine Ahnung, ich muss mit ihr reden«, sagt Saga schnell. »Es ist wirklich sehr dringend.«
»Sie ist Untermieterin bei Axel Riessen, der … Er hat eine Art informelle Verantwortung für sie übernommen.«
»Dann wohnt sie bei ihm?«, fragt Saga schnell, dreht den Schlüssel im Zündschloss und fährt los.
»Axel Riessen stellt ihr ein Zimmer zur Verfügung, bis sie eine eigene Bleibe findet«, antwortet der Arzt. »Sie ist erst fünfzehn, aber es wäre ein Fehler, sie zu zwingen, wieder nach Hause zu ziehen.«
Es ist wenig los auf den Straßen, sodass Saga schnell fahren kann.
»Darf ich erfahren, aus welchem Grund Beverly bei Ihnen in Behandlung gewesen ist?«, fragt sie.
Der Arzt holt tief Luft und sagt mit seiner tiefen, freundlichen Stimme:
»Ich weiß nicht, ob das interessant ist … Als Arzt würde ich Ihnen antworten, dass sie unter einer schweren Persönlichkeitsstörung litt, als sie zu uns kam. Cluster B.«
»Was bedeutet das?«
»Nichts«, antwortet Herbert Saxéus und räuspert sich. »Aber wenn Sie mich als Mensch fragen, lautet meine Antwort, dass Beverly gesund ist, gesünder als die meisten … Ich weiß, das klingt wie eine Floskel, aber es ist wirklich nicht sie, die krank ist.«
»Sondern die Welt.«
»Ja«, seufzt er.
Saga bedankt sich für das Gespräch, legt auf und biegt in den Valhallavägen. Der Sitz klebt an ihrem verschwitzten Rücken. Das Telefon klingelt. Sie gibt an den Ampeln am Olympiastadion Vollgas, die im selben Moment auf Rot springen. Dann meldet sie sich.
»Ich hab mir gedacht, dass ich auch mal mit Beverlys Vater sprechen könnte«, sagt Anja Larsson. »Er ist ein wirklich netter Mann, aber er hatte einen anstrengenden Tag, er musste sich um eine verletzte Kuh kümmern. Sie trösten, hat er erzählt. Seine Familie hat seit ewigen Zeiten immer am selben Ort gewohnt. Jetzt ist er der Einzige, der noch auf dem Hof lebt. Wir haben über Nils Holgersson gesprochen, und am Ende hat er dann ein paar Briefe geholt, die Beverly ihm geschickt hat. Er hatte sie nicht einmal geöffnet, was für ein sturer Hund. Beverly hat ihm in jedem Brief ihre Telefonnummer aufgeschrieben.«
Saga Bauer dankt Anja mehrmals und wählt die Nummer. Sie hält vor Axel und Robert Riessens Haus, während Beverly Anderssons Handy klingelt.
Ein Rufton nach dem anderen verschwindet im Äther. Die Sonne scheint durch den aufgewirbelten Staub vor der Kirche. Saga spürt, dass ihr Körper vor Anstrengung zittert, ihr läuft die Zeit davon, Joona wird Raphael Guidi ganz alleine gegenüberstehen.
Mit dem Handy am Ohr geht sie zu Robert Riessens Tür und klingelt. Plötzlich klickt es im Telefon, und man hört ein leises Rauschen.
»Beverly?«, fragt Saga. »Bist du das?«
Sie hört jemanden atmen.
»Antworte mir, Beverly«, sagt sie so sanft, wie es nur eben geht. »Wo bist du?«
»Ich …«
Es wird wieder still.
»Was hast du gesagt? Was hast du gesagt, Beverly, ich konnte dich nicht richtig hören.«
»Ich darf noch nicht rauskommen«, flüstert das Mädchen und unterbricht die Verbindung.
Robert Riessen ist schweigsam und blass, als er Saga in Beverly Anderssons Zimmer allein lässt und sie bittet, die Wohnung hinter sich abzuschließen. Das Zimmer sieht beinahe unbewohnt aus. Es gibt darin nichts als einige zusammengefaltete Kleidungsstücke im Schrank, ein Paar Gummistiefel, eine Steppjacke und ein Ladekabel für das Handy.
Saga schließt die Tür ab und geht in Axel Riessens Wohnung hinunter. Sie will versuchen zu verstehen, was Joona gemeint hat, als er sagte, das Mädchen könne eine Zeugin sein. Sie kommt an den Wohnräumen, den Salons und der stillen Bibliothek vorbei. Die Tür zu Axel Riessens Schlafzimmer steht einen Spaltbreit offen. Saga geht über den dicken chinesischen Teppich, am Bett vorbei in das angrenzende Badezimmer. Sie kehrt ins Schlafzimmer zurück. Irgendetwas macht sie nervös. Eine Unruhe hängt in dem Zimmer, und Saga legt ihre Hand auf die Glock im Schulterhalfter. Auf dem Tisch lässt eine Pusteblume in einem Whiskyglas den Kopf hängen.
Träge bewegt sich Staub im Sonnenlicht, die Möbel und Dinge sind ganz von ihrer Stille erfüllt. Als der Zweig eines Baums über die Fensterscheibe scharrt, schlägt ihr Herz plötzlich schneller.
Sie geht zu dem ungemachten Bett, betrachtet die Falten in den gemangelten Laken, die beiden Kissen.
Dann hat Saga das Gefühl, in der Bibliothek vorsichtige Schritte zu hören, und will sich gerade leise dorthin schleichen, als eine Hand nach ihrem Fußknöchel greift. Jemand liegt unter dem Bett. Sie reißt sich los, weicht zurück, zieht die Pistole und wirft aus Versehen das Tischchen mit dem Glas um.
Saga geht auf ein Knie und zielt, senkt ihre Waffe jedoch sofort wieder.
Aus dem Dunkel unter dem Bett heraus sieht ein Mädchen sie mit großen, verängstigten Augen an. Saga steckt die Pistole ins Halfter zurück und seufzt anschließend tief.
»Du leuchtest«, flüstert das Mädchen.
»Beverly?«, fragt Saga.
»Darf ich jetzt rauskommen?«
»Ich verspreche dir, dass du jetzt herauskommen kannst«, sagt Saga.
»Ist denn eine Stunde vorbei? Axel hat gesagt, dass ich erst herauskommen darf, wenn eine Stunde vorbei ist.«
»Es ist viel mehr Zeit vergangen als eine Stunde, Beverly.«
Saga hilft ihr aus dem engen Raum heraus. Das Mädchen trägt nur Unterwäsche und ist nach dem langen Stillliegen ganz steif. Ihre Haare sind kurz geschnitten und die Arme voller Bilder und Buchstaben.
»Was tust du unter Axel Riessens Bett?«, fragt Saga ganz ruhig.
»Er ist mein bester Freund«, antwortet Beverly leise und zieht eine Jeans an.
»Ich glaube, dass er in großer Gefahr ist – du musst mir erzählen, was du weißt.«
Beverly hält das T-Shirt in der Hand. Ihr Gesicht ist auf einmal rot, Tränen treten in ihre Augen.
»Ich habe nichts …«
Beverly verstummt, ihr Mund beginnt zu zittern.
»Ganz ruhig«, meint Saga und zwingt sich nochmals, den Stress in ihrer Stimme zurückzudrängen. »Fang einfach von vorne an.«
»Als Axel hereinkam, lag ich im Bett«, sagt Beverly mit schwacher Stimme »Ich habe gleich gemerkt, dass was passiert ist, er war ganz blass. Ich dachte, er wäre traurig, weil ich getrampt bin, das darf ich nämlich eigentlich nicht.«
Sie verstummt und wendet das Gesicht ab.
»Sprich bitte weiter, Beverly, wir haben es ein bisschen eilig.«
Beverly flüstert eine Entschuldigung, wischt sich rasch die Wangen mit ihrem T-Shirt trocken und sieht Saga mit feuchten Augen und geröteter Nasenspitze an.
»Axel ist ins Zimmer gekommen«, erzählt Beverly gefasst. »Er hat mir gesagt, dass ich unter das Bett kriechen und mich eine ganze Stunde verstecken soll und … dann ist er ins Wohnzimmer gerannt und ich weiß nicht … ich habe nur ihre Beine gesehen, aber zwei Onkel sind hinter ihm hereingekommen. Sie haben etwas ganz Schreckliches mit ihm gemacht. Er schrie, und sie haben ihn auf den Boden geworfen und in weißes Plastik gewickelt und rausgetragen. Das ging alles total schnell. Ich habe ihre Gesichter nicht gesehen … ich weiß nicht mal, ob es Menschen waren …«
»Warte mal kurz«, sagt Saga und zieht ihr Handy heraus. »Du musst mitkommen und das Gleiche einem Mann erzählen, der Jens Svanehjälm heißt.«
Saga ruft mit zitternden Händen Carlos Eliasson an.
»Wir haben eine Zeugin, die gesehen hat, dass Axel Riessen gegen seinen Willen fortgeschafft wurde. Wir haben eine Zeugin«, wiederholt sie. »Die Zeugin hat beobachtet, dass Riessen überfallen und entführt wurde, das muss reichen.«
Während Saga der Reaktion am Telefon lauscht, begegnet sie Beverlys Blick.
»Gut, wir sind schon unterwegs«, sagt sie. »Hol Svanehjälm und sieh zu, dass er den Kontakt mit Europol vorbereitet.«
108
Loyalität
Raphael Guidi geht mit einer schwarzen Ledermappe in der Hand durch den Speisesaal, legt sie auf den Tisch und schiebt sie zu Axel Riessen hinüber.