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Pollock startet den Film in Zeitlupe. Eine körnige Videoaufnahme, von schräg oben gefilmt. Man sieht eine Bankfiliale. Am unteren Rand des Bilds laufen die Sekunden mit. Möbel sind umgekippt, Papiere und Formulare liegen auf dem Boden. Joona schiebt sich geschmeidig seitwärts, hat die Pistole erhoben, den Arm gestreckt. Seine Bewegungen sind langsam, als befände er sich unter Wasser. Der Bankräuber versteckt sich hinter der weit geöffneten Tür zum Tresorraum und hält ein Messer in der Hand. Plötzlich rennt er mit großen, fließenden Sätzen los. Joona richtet die Pistole auf ihn, zielt auf den Brustkorb und drückt ab.

»Die Pistole klemmt«, kommentiert Pollock. »Eine beschädigte Patrone hängt im Lauf fest.«

Die körnige Videoaufnahme flimmert. Joona weicht zurück, während der Mann mit dem Messer auf ihn zuläuft. Das Ganze ist gespenstisch still, alles scheint zu schweben. Joona löst das Magazin, es fällt zu Boden. Er sucht nach einem neuen, merkt aber, dass ihm dazu keine Zeit mehr bleibt. Stattdessen dreht er die unbrauchbar gewordene Pistole in der Hand so, dass der Lauf in einer Linie mit den kräftigen Knochen des Unterarms liegt.

»Ich verstehe nicht«, sagt eine Frau.

»Er verwandelt die Pistole in einen Tonfa«, erklärt Pollock.

»In einen was?«

»Das ist eine Art Schlagstock, wie ihn amerikanische Polizisten häufig benutzen, er verlängert die Reichweite und verstärkt die Kraft des Schlags, indem er die Trefferfläche verkleinert.«

Der Mann mit dem Messer hat Joona erreicht. Er macht einen großen, zögernden Schritt. Die Klinge glänzt auf ihrer halbkreisförmigen Bahn zu Joonas Rumpf. Die zweite Hand ist erhoben und folgt der Körperdrehung. Joona beachtet das Messer gar nicht und macht stattdessen einen großen Satz nach vorn und schlägt in derselben Bewegung eine Gerade. Er trifft den Bankräuber mit der Mündung der Pistole direkt unter dem Adamsapfel am Hals.

Das Messer fliegt träumerisch wirbelnd zu Boden, und der Mann fällt auf die Knie, reißt den Mund auf, hält sich den Hals und kippt nach vorn.

10

Die Ertrunkene

Joona Linna sitzt auf dem Weg ins Karolinska-Institut in Solna in der Fleminggatan im Auto und denkt an Carl Palmcronas hängenden Körper, die gespannte Wäscheleine, den Aktenkoffer auf dem Fußboden.

In Gedanken versucht Joona, um den Toten zwei Kreise aus Schuhspuren auf dem Boden hinzuzufügen.

Dieser Fall ist noch nicht abgeschlossen.

Joona biegt in den Klarastrandsleden Richtung Solna ein. Er fährt am Kanal entlang, an dem die Bäume bereits ihre Samen verstreuenden Kelche ausgebildet haben und sich ins Wasser hinauslehnen, ihre Äste zur glatten, spiegelnden Oberfläche hinabsenken.

Vor seinem inneren Auge sieht er erneut die Haushälterin, Edith Schwartz, jedes Detail, die Adern auf ihren großen Händen, in denen sie die Einkaufstüten hielt, und hört ihre Antwort, hilfsbereite Menschen gebe es überall.

Die Rechtsmedizin liegt inmitten grünender Bäume und gepflegter Rasenflächen auf dem großen Campus des Karolinska-Instituts. Ein roter Backsteinbau am Retzius väg 5, zu allen Seiten von mächtigen Gebäuden umgeben.

Joona fährt auf den leeren Gästeparkplatz. Er sieht, dass Gerichtsmediziner Nils Åhlén über den Bordstein gefahren ist und seinen weißen Jaguar mitten auf dem sorgsam gepflegten Rasen geparkt hat.

Joona winkt der Frau an der Rezeption zu, die seine Geste mit einem erhobenen Daumen beantwortet, geht durch den Korridor, klopft an Åhléns Tür und tritt ein. Wie üblich ist das Büro des Gerichtsmediziners vollkommen frei von überflüssigen Gegenständen.

Die Jalousien sind heruntergezogen, dennoch fällt durch die Lamellen Sonnenlicht herein, das auf allen weißen Flächen des Raumes leuchtet, in den grauen Feldern aus gebürstetem Stahl jedoch verschwindet.

Åhlén trägt eine Pilotenbrille mit weißen Bügeln und unter seinem Arztkittel ein weißes Poloshirt.

»Ich habe einen Strafzettel für einen falsch geparkten Jaguar ausgestellt«, sagt Joona.

»Gut«, kommentiert Åhlén.

Joona wird ernst, seine Augen bekommen eine silbrig dunkle Farbe.

»Wie ist er gestorben?«

»Palmcrona?«

»Ja.«

Das Telefon klingelt, und Åhlén schubst den Obduktionsbericht in Joonas Richtung.

»Um darauf eine Antwort zu bekommen, hättest du nicht herzukommen brauchen«, sagt er, bevor er nach dem Hörer greift.

Joona setzt sich ihm gegenüber auf einen Stuhl mit weißer Ledersitzfläche. Die Obduktion von Carl Palmcronas Körper ist abgeschlossen. Joona blättert in dem Bericht und überfliegt einige willkürlich ausgewählte Punkte:

74.   Die Nieren wiegen insgesamt 290 Gramm. Glatte Oberfläche, Gewebe graurot, feste, elastische Konsistenz, deutliche Zeichnung.

75.   Abführende Harnleiter sind von normalem Aussehen.

76.   Die Harnblase ist leer, die Schleimhaut blass.

77.   Die Prostata ist nicht vergrößert, das Gewebe ist bleich.

Åhlén schiebt die Pilotenbrille auf seiner schmalen, leicht gekrümmten Nase hoch, beendet das Telefonat und blickt anschließend auf.

»Wie du siehst«, sagt er gähnend, »gibt es da nichts Unerwartetes. Die Todesursache fällt in die Rubrik Asphyxie, will sagen Ersticken … Beim vollständigen Erhängen handelt es sich allerdings eher selten um ein Ersticken im üblichen Sinn, sondern um ein Abschnüren der Arterienversorgung.«

»Das Gehirn erstickt, weil der Zufluss sauerstoffgesättigten Bluts unterbunden wird.«

Åhlén nickt.

»Arterienkompression, bilaterales Abklemmen der Carotis, das geht natürlich alles ungeheuer schnell, Bewusstlosigkeit binnen weniger Sekunden …«

»Aber vor dem Erhängen hat er noch gelebt?«, fragt Joona.

»Ja.«

Åhléns schmales Gesicht ist glatt rasiert und finster.

»Kannst du die Fallhöhe schätzen?«, fragt Joona.

»Es liegen weder an der Halswirbelsäule noch an der Schädelbasis Frakturen vor – sodass ich schätzen würde, dass es sich nur um vierzig oder fünfzig Zentimeter gehandelt haben kann.«

»Ja …«

Joona denkt an die Aktentasche mit den Abdrücken von Palmcronas Schuhen. Er öffnet nochmals den Bericht und blättert bis zum Abschnitt »Äußere Besichtigung« vor, der Untersuchung der Haut am Hals, den gemessenen Winkeln.

»Woran denkst du?«, fragt Åhlén.

»Ich frage mich, ob die Möglichkeit besteht, dass er mit derselben Schlinge erwürgt und anschließend bloß an der Decke aufgehängt wurde.«

»Nein«, antwortet Åhlén.

»Warum nicht?«

»Warum nicht? Es gab nur eine Furche, und die war perfekt«, erläutert Åhlén. »Wenn eine Person sich erhängt, schneidet das Seil oder die Leine in den Hals ein und das …«

»Aber das könnte ein Täter doch wissen«, unterbricht Joona ihn.

»Aber es ist praktisch unmöglich, das zu rekonstruieren. Du weißt doch, beim vollständigen Erhängen muss die Furche der Schnur um den Hals wie eine Pfeilspitze geformt sein, mit der Spitze nach oben, genau am Knoten …«

»Weil das Gewicht des Körpers die Schlaufe zuzieht.«

»Ja, genau … Und aus dem gleichen Grund soll sich der tiefste Teil der Furche genau gegenüber der Spitze befinden.«

»Dann starb er also definitiv durch Erhängen«, konstatiert Joona.

»Ohne jeden Zweifel.«

Der große, hagere Pathologe beißt sich sanft in die Unterlippe.

»Könnte man ihn zum Selbstmord gezwungen haben?«, fragt Joona.

»Nicht mit Gewalt – dafür gibt es jedenfalls keine Anzeichen.«

Joona schließt den Bericht, trommelt mit beiden Händen leicht darauf und denkt, dass die Andeutungen der Haushälterin über andere Menschen, die in Palmcronas Tod verwickelt waren, doch nur wirres Gerede gewesen sind. Trotzdem wollen ihm die zwei verschiedenen Fußabdrücke nicht aus dem Sinn, die Tommy Kofoed gefunden hat.