Joona geht an Bord, die Boote gleiten wieder auseinander, Wasser schwappt zwischen ihnen hoch, Niko springt, und Joona packt seine Hand. Das Sturmgewehr stößt klingend gegen das Geländer. Sie sehen sich kurz in die Augen und gehen anschließend zur Treppe, zwängen sich an einigen kaputten Korbstühlen und alten Weinkisten vorbei und steigen die Treppe hoch.
Niko dreht sich um und winkt Pasi Rannikko zu, der von der Jacht fortsteuert.
111
Verräter
Raphael Guidi steht in Begleitung eines Leibwächters mit kurz geschorenen grauen Haaren und Hornbrille auf der Kommandobrücke. Der Steuermann starrt die beiden ängstlich an und streicht sich mit der Hand über den Bauch.
»Was geht hier vor?«, fragt Guidi schnell.
»Ich habe angeordnet, den Hubschrauber warmlaufen zu lassen«, sagt der Steuermann. »Ich dachte …«
»Wo ist das Boot?«
»Dort«, sagt der Mann und zeigt nach achtern.
Ganz nah, direkt hinter dem Deck der Jacht mit seinem Schwimmbecken und den Winschen mit Rettungsbooten, befindet sich das unbewaffnete Transportschiff der Küstenwache. Schiffswellen schlagen gegen den grau gesprenkelten Steven, und das Wasser schäumt durch den Umkehrschub der Schiffswellen auf.
»Was haben sie gesagt, wie lauteten ihre Worte?«, fragt Raphael Guidi.
»Sie hatten es eilig, baten um Verstärkung, sagten, sie hätten einen Haftbefehl.«
»Das ist unmöglich«, sagt Guidi und schaut sich um.
Durch das Fenster sehen er und die anderen, dass der Hubschrauberpilot bereits im Cockpit sitzt und die Rotorblätter sich soeben in Bewegung gesetzt haben. Plötzlich hört man Paganinis Caprice Nummer 24 aus dem Speisesaal unter ihnen.
»Da ist ihre Verstärkung«, sagt der Steuermann und zeigt auf den Radarschirm.
»Ich habe es gesehen, wie viel Zeit bleibt uns noch?«, erkundigt sich Guidi.
»Sie machen etwas mehr als 33 Knoten und dürften in zehn Minuten hier sein.«
»Kein Problem«, sagt der Leibwächter mit einem Blick auf den Hubschrauber. »Wir haben genügend Zeit, Sie und Peter rechtzeitig fortzuschaffen, mindestens drei Minuten bevor …«
Der zweite Leibwächter rennt durch die Glastür auf die Kommandobrücke. Sein blasses Gesicht ist angespannt.
»Es ist jemand auf dem Schiff«, ruft er.
»Wie viele?«, fragt der grauhaarige Leibwächter.
»Ich habe nur einen gesehen, aber ich bin mir nicht sicher … Er ist mit einem Sturmgewehr bewaffnet, hat aber keine Spezialausrüstung.«
»Du hältst ihn auf«, sagt der grauhaarige Mann kurz zu seinem Kollegen.
»Gib mir ein Messer«, sagt Raphael Guidi schnell.
Der Leibwächter zieht ein Messer mit einer schmalen grauen Klinge. Der Waffenhändler nimmt es entgegen und nähert sich dem Steuermann.
»Wollten die nicht auf Verstärkung warten?«, schreit Guidi. »Du hast gesagt, dass sie auf Verstärkung warten würden!«
»Ich habe es jedenfalls so verstanden, dass …«
»Was zum Teufel tun die hier? Die können mir nicht das Geringste nachweisen«, sagt Guidi. »Sie haben nichts in der Hand!«
Der Steuermann schüttelt den Kopf und weicht zurück. Raphael Guidi nähert sich ihm.
»Was zum Teufel wollen die hier, wenn sie nichts gegen mich in der Hand haben?«, schreit er. »Da gibt es nichts …«
»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht«, antwortet der Steuermann mit Tränen in den Augen. »Ich habe Ihnen nur gesagt, was ich gehört habe …«
»Was hast du gesagt?«
»Gesagt? Ich verstehe nicht …«
»Dafür habe ich jetzt keine Zeit«, schreit Guidi. »Sag mir verdammt noch mal einfach, was du ihnen gesagt hast!«
»Ich habe ihnen nichts gesagt.«
»Merkwürdig, verdammt merkwürdig, oder nicht? Ist es das nicht?«
»Ich habe ihren Funkverkehr abgehört, genau, wie ich es tun sollte, ich habe nicht …«
»Kann das denn so schwer sein zu gestehen«, brüllt Raphael Guidi, ist mit ein paar schnellen Schritten beim Steuermann und rammt ihm das Messer in den Bauch.
Fast widerstandslos gleitet es durch dessen Hemd und in Fettgewebe und Darm. Über der Klinge zischt Blut wie Dampf, spritzt auf Guidis Hand und den Ärmel seines Trainingsanzugs. Mit ungläubigem Gesicht versucht der Steuermann, einen Schritt zurückzuweichen, um dem Messer zu entkommen, aber Raphael Guidi folgt seiner Bewegung und sieht ihm eine Weile in die Augen.
Aus dem Speisesaal dringt Geigenmusik herauf, leichte Töne glitzern und perlen.
»Es könnte auch Axel Riessen gewesen sein«, meint der grauhaarige Leibwächter auf einmal. »Vielleicht ist er verwanzt, vielleicht hält er irgendwie Kontakt zur Polizei und …«
Der Waffenhändler zieht das Messer aus dem Bauch des Steuermanns und rennt die breite Treppe hinunter.
Der Steuermann bleibt mit der Hand auf dem Bauch stehen. Blut tropft auf seine schwarzen Halbschuhe, und er versucht, einen Schritt zu machen, fällt jedoch hin und bleibt, den Blick zur Decke gerichtet, liegen.
Der grauhaarige Leibwächter folgt Raphael Guidi mit schussbereitem Sturmgewehr, den Blick auf die Panoramafenster des Speisesaals gerichtet.
Als Guidi herunterkommt und mit dem blutigen Messer auf ihn zeigt, hört Axel Riessen auf zu spielen.
»Verräter«, brüllt der Waffenhändler. »Wie kannst du nur so verdammt …«
Der grauhaarige Leibwächter feuert eine Salve ohrenbetäubender Schüsse ab. Die Kugeln durchschlagen die Fensterfront, und die Hülsen fallen klirrend die Treppenstufen hinab.
112
Schnellfeuer
Mit großen, vorsichtigen Schritten steigen Joona und Niko eine der äußeren Treppen hoch, am unteren Deck vorbei und auf das riesige Achterdeck hinauf. Die stille See breitet sich in alle Himmelsrichtungen aus wie eine endlose Glasscheibe. Plötzlich hört Joona Geigenmusik. Er versucht, hinter den großen Glastüren etwas zu erkennen. Hinter den spiegelnden Glasflächen sind schemenhaft dunkle Konturen zu erkennen. Er kann nur einen kleinen Teil des Speisesaals einsehen. Menschen kann er nicht ausmachen. Es ertönt weiterhin fiebrige Musik. Fern wie in einem Traum, durch die Fenster gedämpft.
Joona und Niko warten einige Sekunden und laufen dann schnell an einem Schwimmbecken ohne Wasser vorbei, unter die vorspringende Terrasse, bis zu der Metalltreppe.
Von der Terrasse über ihnen dringt das Geräusch von Schritten zu ihnen herab, und Niko zeigt auf die Treppe. Leise verstecken sie sich an der Wand hinter dem Geländer.
Die schnellen spielerischen Geigenläufe sind nun deutlicher zu hören. Der Geiger ist ein Virtuose. Joona blickt vorsichtig in einen riesigen Speisesaal mit Büroausstattung auf einzelnen Tischen, sieht aber keine Menschen. Der Musiker muss sich hinter der breiten roten Treppe aufhalten.
Joona gibt Niko ein Zeichen, ihm zu folgen und seinen Rücken zu decken, und zeigt auf die Kommandobrücke über ihnen.
Plötzlich verstummt die Geige mitten in einem schönen Lauf in den höchsten Tonlagen.
Sehr plötzlich.
Joona wirft sich hinter die Treppe und hört im selben Moment eine gedämpfte Maschinengewehrsalve. Es knallt schnell und prägnant. Die Vollmantelgeschosse schlagen in die Treppe ein, auf der er gerade noch gestanden hat, und heulen als Querschläger in verschiedene Richtungen.
Joona schiebt sich weiter hinter die Treppe, spürt erneut das Adrenalin in seinem Körper. Niko ist hinter einem Bootskran in Deckung gegangen und erwidert das Feuer. Joona bewegt sich geduckt, sieht die Reihe der Kugellöcher im dunklen Fensterglas wie frostige Ringe um schwarze Pupillen.
113
Die Messerklinge
Der grauhaarige Leibwächter eilt weiter die Treppe hinunter, richtet die Waffe auf das Panoramafenster mit der Reihe Kugellöcher. Das Sturmgewehr raucht, leere Patronenhülsen hüpfen klirrend die Stufen hinunter.