Er ist auf dem Weg zu Anette, als Robert seinen Arm nimmt und ihn zurückhält.
»Als Kinder hatten wir viel Spaß zusammen«, sagt Robert mit einem ernsten Blick. »Warum haben wir aufgehört, miteinander zu reden? Wie war das möglich?«
Axel betrachtet erstaunt das Gesicht seines Bruders, die Fältchen in seinen Augenwinkeln, die zerzausten Haare rund um den kahlen Scheitel.
»Es passieren Dinge im Leben, die …«
»Warte … ich wollte es dir am Telefon nicht erzählen«, unterbricht Robert ihn.
»Was ist?«
»Beverly hat mir erzählt, dass du glaubst, du seist schuld, dass Greta sich das Leben genommen hat, aber ich …«
»Ich möchte nicht darüber sprechen«, unterbricht Axel ihn sofort.
»Du musst«, sagt Robert. »Ich war bei dem Wettbewerb dabei, ich habe alles gehört, ich habe Greta und ihren Vater sprechen hören, sie weinte die ganze Zeit, sie hatte sich verspielt, und ihr Vater hat sich schrecklich aufgeregt …«
Axel macht sich von der Hand seines Bruders frei.
»Ich weiß schon alles, was …«
»Lass mich sagen, was ich dir sagen muss«, unterbricht Robert ihn.
»Dann mach schon.«
»Axel, wenn du doch nur etwas gesagt hättest, wenn ich gewusst hätte, dass du dir die Schuld an Gretas Tod gibst. Ich habe ihren Vater gehört. Es war seine Schuld, es war einzig und allein seine Schuld … sie haben sich furchtbar gestritten, ich hörte ihn schreckliche Dinge sagen. Sie habe ihn lächerlich gemacht, sie sei nicht mehr seine Tochter. Sie solle sein Haus verlassen, von der Schule abgehen und zu ihrer Mutter, der Fixerin, nach Mora ziehen.«
»Das hat er gesagt?«
»Ich werde Gretas Stimme nie vergessen«, fährt Robert fort. »Wie ängstlich sie klang, als sie ihrem Vater zu erklären versuchte, dass sich jeder einmal verspielen könne, dass sie ihr Bestes gegeben habe, dass es nicht weiter schlimm sei und es noch mehr Wettbewerbe geben werde …«
»Ich habe immer …«
Axel schaut sich um, weiß nicht, was er tun soll, alle Kraft weicht aus seinem Körper. Also setzt er sich einfach langsam auf den Marmorboden und hält sich beide Hände vors Gesicht.
»Sie hat geweint und ihrem Vater gesagt, dass sie sich umbringen werde, wenn sie nicht bleiben und weiter Musik studieren dürfe.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, flüstert Axel.
»Bedank dich bei Beverly«, erwidert Robert.
Es fängt an zu nieseln, als Beverly im Stockholmer Hauptbahnhof auf dem Bahnsteig steht.
Die Reise nach Süden führt durch eine sommerliche Landschaft, die in einen grauen Dunst gehüllt ist. Erst unten in Hässleholm kommt die Sonne wieder heraus. Nachdem sie in Lund in einen anderen Zug gestiegen und von Landskrona aus den Bus genommen hat, kommt sie in Svalöv an.
Es ist lange her, dass sie zu Hause gewesen ist.
Doktor Saxéus hat ihr versprochen, dass die Sache gut gehen wird.
Ich habe mit deinem Vater gesprochen, hatte der Arzt gesagt. Er meint es ernst.
Beverly geht über einen staubigen Platz. Sie sieht sich selbst zwei Jahre zuvor mitten auf dem Platz liegen und sich übergeben. Ein paar Jungen hatten sie dazu verführt, selbst gebrannten Schnaps zu trinken. Sie hatten Fotos von ihr gemacht und sie anschließend auf dem Platz abgesetzt. Nach diesem Vorfall hatte ihr Vater sie nicht mehr zu Hause haben wollen.
Sie geht weiter. Als sie die Landstraße sieht, die sich in Richtung des drei Kilometer entfernten Bauernhofs erstreckt, hat sie ein mulmiges Gefühl im Bauch. An dieser Landstraße hatten die Autos sie immer mitgenommen. Heute kann sie sich nicht erinnern, warum sie mit ihnen fahren wollte. Sie hatte geglaubt, in ihren Augen etwas zu sehen. Eine Art Licht, hatte sie damals oft gedacht.
Beverly nimmt den schweren Koffer in die andere Hand.
Weit vor ihr kommt ein Auto auf sie zu, es wirbelt Staub auf.
Kennt sie diesen Wagen nicht?
Beverly lächelt und winkt.
Papa kommt.
Die Roslags-Kulla-Kirche ist eine kleine rot schimmernde Holzkirche mit einem großen und schönen, freistehenden Glockenturm. Die Kirche liegt abgeschieden auf dem Land nahe Vira bruk, ein ganzes Stück entfernt von den viel befahrenen Straßen in der Gemeinde Österåker. Der Himmel ist hellblau und die Luft klar, der Wind trägt den Duft von Wildblumen auf den friedvollen Kirchhof.
Gestern wurde Björn Almskog auf dem Stockholmer Nordfriedhof beerdigt, und nun tragen vier Männer in schwarzen Anzügen Viola Maria Liselott Fernandez zu ihrer letzten Ruhestätte. Hinter den Sargträgern, zwei Onkeln und zwei Cousins aus El Salvador, gehen Penelope Fernandez und ihre Mutter Claudia zusammen mit dem Pfarrer.
Sie bleiben am offenen Grab stehen. Das Kind eines Cousins, ein neunjähriges Mädchen, sieht ihren Vater fragend an. Als er ihr zunickt, greift sie zu ihrer Blockflöte und beginnt, »Wohl dem, der den Herrn fürchtet« zu spielen, während der Sarg in die Erde gesenkt wird.
Penelope Fernandez und ihre Mutter stehen Hand in Hand am Grab, und der Pfarrer liest aus der Offenbarung des Johannes.
»Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein.«
Claudia Fernandez sieht Penelope an, rückt ihren Kragen gerade und tätschelt ihre Wange, als wäre sie ein kleines Kind.
Als sie zu den Autos zurückkehren, surrt Penelopes Handy in ihrer schwarzen Leinentasche. Es ist Joona Linna. Penelope löst sich behutsam von der Hand ihrer Mutter und geht in den Schatten unter einem der großen Bäume, um dort das Gespräch anzunehmen.
»Hallo, Frau Fernandez«, sagt Joona in seinem singenden, aber ernsten Tonfall.
»Hallo, Herr Linna«, sagt Penelope.
»Ich dachte, Sie sollten wissen, dass Raphael Guidi tot ist.«
»Und die Munition für Darfur?«
»Wir haben den Frachter gestoppt.«
»Gut.«
Penelope lässt den Blick über Verwandte, Freunde und ihre Mutter schweifen, die sich nicht von der Stelle gerührt hat, ihre Mutter, die sie nicht aus den Augen lässt.
»Danke«, sagt sie.
Sie kehrt zu ihrer Mutter zurück, die sie mit ängstlicher Miene erwartet und wieder nach ihrer Hand greift. Gemeinsam gehen sie zu den anderen zurück, die bei den Autos warten.
»Penelope.«
Sie bleibt stehen und dreht sich um. Sie hat das Gefühl gehabt, die Stimme ihrer Schwester gehört zu haben, ganz nah. Ihr läuft ein Schauer über den Rücken, und ein Schatten zieht sachte über das zarte grüne Gras. Das kleine Mädchen, das Blockflöte gespielt hat, steht zwischen den Grabsteinen und sieht sie an. Es hat sein Haarband verloren, und seine Haare fliegen zerzaust in der sommerlichen Brise.
Die Sommertage nehmen kein Ende, bis zum Morgengrauen schimmert die Nacht wie Perlmutt.
Die Landespolizei feiert ihr Sommerfest im Barockgarten vor Schloss Drottningholm.
Joona Linna sitzt mit seinen Kollegen an einer langen Tafel unter einem großen Baum.
Auf einer Bühne vor einem Tanzboden aus rotem Holz steht eine Combo in weißen Anzügen und spielt eine schwedische Volksweise, das Hårga-Lied.
Petter Näslund tanzt Polka mit Fatima Zanjani aus dem Irak. Er sagt ihr etwas mit fröhlich hochgezogenen Mundwinkeln, was sie glücklich zu machen scheint.
Eigentlich erzählt das Lied vom Teufel, der so gut Geige spielte, dass die jungen Leute niemals aufhören wollten zu tanzen. Sie machten die ganze Nacht weiter, und als sie den Fehler begingen, das Läuten der Sonntagsglocken nicht zu respektieren, konnten sie nicht mehr aufhören zu tanzen. Die jungen Menschen waren so erschöpft, dass sie Tränen vergossen. Ihre Schuhe wurden verschlissen, ihre Füße wurden verschlissen, und am Ende sprangen nur noch ihre Köpfe zur Geigenmusik umher.
Auf einem Klappstuhl sitzt Anja Larsson in einem blau geblümten Kleid. Sie starrt die tanzenden Paare an. Ihr rundes Gesicht ist mürrisch, enttäuscht. Als sie jedoch sieht, dass Joona seinen Platz am Tisch verlässt, laufen ihre Wangen rot an.