»Einen schönen Sommer wünsche ich dir, Anja«, sagt er.
Zwischen den Bäumen bewegt sich Saga Bauer tanzend über das Gras. Sie jagt mit Magdalena Ronanders Zwillingen Seifenblasen hinterher. Ihre blonden gewellten Haare mit den bunten Bändchen glänzen in der Sonne. Zwei Frauen mittleren Alters sind stehen geblieben und betrachten sie erstaunt.
»Meine Damen und Herren«, sagt der Sänger nach dem Applaus. »Uns ist ein besonderer Wunsch zugetragen worden …«
Carlos Eliasson lächelt vor sich hin und schielt zu jemandem hinter der Bühne hinüber.
»Ich stamme aus dem finnischen Oulu«, fährt der Sänger lächelnd fort. »Und deshalb werde ich mit Freuden einen finnischen Tango für Sie singen, der den Titel ›Satumaa‹ trägt.«
Magdalena Ronander hat einen Blütenkranz im Haar, als sie sich Joona nähert und seinen Blick sucht. Anja starrt auf ihre neuen Schuhe hinab.
Die Kapelle beginnt, den schmachtenden Tango zu spielen. Joona dreht sich zu Anja um, deutet eine Verneigung an und fragt leise:
»Darf ich bitten?«
Anjas Stirn, Wange und Hals werden feuerrot. Sie begegnet seinem Blick und nickt ernst.
»Ja«, sagt sie. »Ja, das darfst du.«
Sie nimmt seinen Arm, wirft einen stolzen Blick auf Magdalena und folgt Joona mit hoch erhobenem Kopf auf den Tanzboden.
Anja tanzt konzentriert, ernsthaft, mit einer schmalen Falte auf der Stirn. Aber schon bald wird ihr Gesicht ruhig und glücklich.
Die stark eingesprayten Haare liegen in einem kunstvoll frisierten Dutt in ihrem Nacken. Sie lässt sich von Joona führen, ihr Körper ist folgsam.
Als sich das sentimentale Lied dem Ende zuneigt, spürt Joona auf einmal, dass Anja ihn in die Schulter beißt, ganz vorsichtig.
Sie beißt noch einmal, diesmal etwas fester.
»Was tust du da?«, fragt er sie.
Ihre Augen leuchten, sind etwas glasig.
»Ich weiß es nicht«, antwortet sie aufrichtig. »Ich habe nur ausprobiert, was passiert, denn das weiß man nie, bevor man es nicht probiert hat …«
Im selben Moment verstummt die Musik. Er lässt sie los und bedankt sich für den Tanz. Ehe er dazu kommt, sie zu ihrem Platz zu eskortieren, tritt Carlos zu ihnen und fordert Anja auf.
Joona steht eine Weile etwas abseits und sieht seinen Kollegen beim Tanzen, Essen und Trinken zu und geht schließlich zu seinem Wagen.
Weiß gekleidete Menschen sitzen auf Picknickdecken oder flanieren zwischen den Bäumen.
Joona erreicht den Parkplatz und öffnet die Tür seines Volvos. Auf dem Rücksitz liegt gut verpackt ein riesiger Blumenstrauß. Er setzt sich ins Auto und ruft Disa an. Beim vierten Rufton meldet sich ihre Mailbox.
Disa sitzt in ihrer Wohnung am Karlaplan vor dem Computer. Sie hat ihre Lesebrille aufgesetzt und sich ein Plaid um die Schultern gelegt. Auf dem Schreibtisch liegt ihr Handy neben einer Tasse kalten Kaffees und einer Zimtschnecke.
Auf dem Computerbildschirm leuchtet das Bild eines verwitterten Steinhaufens in wildwüchsiger Vegetation. Überreste des Cholerafriedhofs bei Skanstull in Stockholm.
Sie schreibt ihre Notizen in die Computerdatei, streckt sich und hebt die Tasse halb zum Mund, überlegt es sich dann aber anders. Als sie aufsteht, um neuen Kaffee aufzusetzen, surrt das Handy auf ihrem Schreibtisch.
Ohne nachzusehen, wer sie anruft, schaltet sie es aus und bleibt stehen, schaut aus dem Fenster. Staubstriemen leuchten in der Sonne. Disas Herz schlägt schnell und hart, als sie sich wieder an den Computer setzt. Sie hat nicht die Absicht, jemals wieder mit Joona Linna zu sprechen.
Es herrscht Wochenendstimmung in Stockholm, und es sind nur wenige Autos unterwegs, als Joona langsam die Tegnérgatan hinabgeht. Er hat den Versuch aufgegeben, Disa zu erreichen. Sie hat ihr Handy ausgeschaltet, und er geht davon aus, dass sie ihre Ruhe haben will. Joona biegt um die Ecke des Blauen Turms, in dem Strindberg seine letzten Lebensjahre verbrachte, und geht den Teil der Drottninggatan hinab, an dem die Antiquariate und kleinen Geschäfte liegen. Vor der esoterischen Buchhandlung Wassermann steht eine alte Frau und tut so, als würde sie sich das Schaufenster ansehen. Als Joona an ihr vorbeigeht, macht sie eine Geste in Richtung Fenster und folgt ihm mit etwas Abstand.
Es dauert eine Weile, bis er bemerkt, dass er verfolgt wird.
Erst als er sich an dem schwarzen Zaun vor der Adolf-Fredriks-Kirche befindet, dreht er sich um. Nur zehn Meter hinter ihm steht eine Frau von etwa achtzig Jahren. Sie sieht ihn ernst an und hält ihm einige Karten hin.
»Das sind Sie, nicht wahr?«, sagt sie und zeigt ihm eine der Karten. »Und hier ist der Kranz, die Brautkrone.«
Joona Linna geht zu ihr und nimmt die Spielkarten, das Spiel, zu dem sie gehören, heißt »Kille«, es ist eines der ältesten Kartenspiele Europas.
»Was wollen Sie?«, fragt er ruhig.
»Ich will nichts«, erwidert die Frau. »Aber ich soll Ihnen etwas von Rosa Bergman ausrichten.«
»Das muss ein Missverständnis sein, ich kenne niemanden, der …«
»Sie möchte wissen, warum Sie so tun, als wäre Ihre Tochter tot.«
Epilog
Es ist Frühherbst in Kopenhagen, die Luft ist klar und kühl geworden, als in vier separaten Limousinen eine diskrete Runde in der Glyptothek eintrifft. Die Männer steigen die Treppe hinauf, passieren den Eingang, setzen ihren Weg durch den üppig blühenden Wintergarten unter dem hohen Glasdach fort, gehen mit hallenden Schritten durch den steinernen Korridor, an antiken Skulpturen vorbei und in den pompösen Festsaal hinein.
Das Publikum hat bereits Platz genommen, und das Tokyo String Quartet sitzt auf einer flachen Bühne mit seinen legendären Stradivaris, jenen Instrumenten, die früher einmal von Nicolò Paganini gespielt wurden.
Die vier letzten Gäste nehmen an einem Tisch im Säulengang neben dem übrigen Publikum Platz. Der jüngste von ihnen ist ein zartgliedriger, blonder Mann namens Peter Guidi. Er ist kaum mehr als ein Junge, aber die Mienen auf den Gesichtern der anderen Anwesenden sagen etwas anderes, und gleich werden sie seine Hand küssen.
Die Musiker nicken einander zu und beginnen, Schuberts Streichquartett Nummer 14 zu spielen. Es beginnt mit großem Pathos, einem aufgestauten Gefühl, einer Kraft, die bezähmt wird. Eine Geige antwortet schmerzlich und schön. Die Musik holt ein letztes Mal Atem und fließt anschließend einfach dahin. Die Melodie spricht von Glück, doch die roten Instrumente haben einen Klang, der voller Trauer über noch mehr verlorene Seelen ist.
Täglich werden neununddreißig Millionen Patronen für verschiedene Schusswaffen produziert. Zurückhaltenden Schätzungen zufolge liegen die Militärausgaben weltweit bei jährlich 1226 Milliarden Dollar. Obwohl unaufhörlich riesige Mengen Waffen produziert werden, ist die Nachfrage nicht zu befriedigen. Die neun größten Exporteure für konventionelle Waffen weltweit sind: USA, Russland, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Niederlande, Italien, Schweden und China.