Noch am gleichen Abend treffen sich um sieben Uhr fünf ernste Männer im Obduktionssaal 13 der rechtsmedizinischen Abteilung des Karolinska-Instituts. Kriminalkommissar Joona Linna möchte die Ermittlungen im Fall der Frau übernehmen, die auf einer Jacht in den Stockholmer Schären tot aufgefunden wurde. Obwohl es Samstag ist, hat er seinen direkten Vorgesetzten Petter Näslund und Oberstaatsanwalt Jens Svanehjälm zu einer Rekonstruktion des Tathergangs hierhergebeten, um die beiden davon zu überzeugen, dass es sich tatsächlich um einen Mordfall handelt.
Eine der Neonröhren an der Decke flackert, und kühl temperiertes Licht spielt auf den glänzenden, weiß gekachelten Wänden.
»Der Starter muss ausgewechselt werden«, sagt Åhlén leise.
»Ja«, erwidert Frippe.
Petter Näslund, der eng an die Wand gedrückt steht, murmelt etwas Unverständliches. Sein breites, kräftiges Gesicht scheint in dem flackernden Licht der Neonröhre zu zittern. Neben ihm wartet Oberstaatsanwalt Jens Svanehjälm mit gereizter Miene. Er scheint abzuwägen, ob er es riskieren kann, seine Lederaktentasche auf dem Fußboden abzustellen und sich mit seinem sauberen Anzug an die Wand zu lehnen.
Ein durchdringender Geruch von Desinfektionsmitteln hängt in dem Raum. Helle, ausrichtbare Lampen sind über einem freistehenden Tisch aus rostfreiem Stahl mit doppelten Wasserhähnen und einem tiefen Becken an der Decke befestigt. Der Boden ist mit hellgrauen PVC-Platten ausgelegt. Eine Zinkwanne, die der auf dem Boot gleicht, ist bereits halb gefüllt. Joona Linna geht immer wieder zu dem Wasserhahn an der Wand, um einen Eimer zu füllen, den er anschließend in den Zuber leert.
»Es liegt ehrlich gesagt noch kein Verbrechen vor, wenn jemand ertrunken auf einem Boot gefunden wird«, sagt Svanehjälm ungeduldig.
»Sehr richtig«, pflichtet Petter ihm bei.
»Es könnte sich um einen Tod durch Ertrinken handeln, der nur noch nicht zur Anzeige gebracht wurde«, fährt Svanehjälm fort.
»Das Wasser in der Lunge ist das gleiche Wasser, auf dem das Boot trieb, aber es gibt im Prinzip nichts von diesem Wasser in den Kleidern und am restlichen Körper«, erläutert Nils Åhlén.
»Seltsam«, sagt Svanehjälm.
»Dafür gibt es bestimmt eine ganz logische Erklärung«, meint Petter.
Joona leert einen letzten Eimer Wasser in die Wanne, blickt auf und bedankt sich bei den vier anderen Anwesenden dafür, dass sie sich die Zeit genommen haben zu kommen.
»Ich weiß, es ist Wochenende und alle wollen schnell wieder nach Haus«, sagt er. »Aber ich glaube, mir ist da was aufgefallen.«
»Natürlich kommen wir, wenn du sagst, dass es wichtig ist«, antwortet Svanehjälm freundlich und stellt endlich seine Aktentasche zwischen den Füßen ab.
»Der Täter ging an Bord der Motorjacht«, beginnt Joona. »Er stieg die Treppe zum Vorpiek hinunter und sah Penelope Fernandez dort schlafen, kehrte aufs Achterdeck zurück, ließ den Eimer mit der Schnur ins Wasser fallen und begann, den Waschzuber, der auf dem Achterdeck stand, zu füllen.
»Fünf, sechs Eimer«, sagt Petter.
»Erst als die Wanne voll war, ging er wieder in die Kajüte hinunter und weckte Penelope. Er führte sie die Treppe hoch und ertränkte sie in dem Zuber.«
»Wer würde so etwas tun?«, fragt Svanehjälm.
»Das weiß ich noch nicht, vielleicht handelte es sich um eine Foltermethode, scheinbares Ertränken …«
»Rache? Eifersucht?«
Joona legt den Kopf schief und sagt mit Nachdruck: »Wir haben es hier nicht mit einem normalen Mörder zu tun, vielleicht wollte der Täter eine Information aus ihr herausholen, sie zwingen, ihm etwas zu erzählen oder zu gestehen, ehe er sie schließlich so lange unter Wasser hielt, bis sie dem Verlangen einzuatmen nicht mehr widerstehen konnte.«
»Was sagt der Chefpathologe?«, fragt Svanehjälm.
Åhlén schüttelt den Kopf:
»Wenn sie ertränkt worden wäre«, erklärt er, »hätte ich Spuren von Gewalt an ihrem Körper finden müssen, blaue Flecke und …«
»Können diese Einwände bitte noch einen Moment warten?«, unterbricht Joona ihn. »Ich würde euch nämlich erst gerne zeigen, wie es sich meiner Meinung nach abgespielt hat, wie ich den Verlauf vor mir sehe. Und dann, wenn ich fertig bin, sehen wir uns alle gemeinsam die Leiche an und schauen, ob es an ihr Belege für meine Theorie gibt.«
»Warum kannst du nie mal was so machen, wie man es machen soll?«, fragt Petter.
»Ich muss bald nach Hause«, warnt der Staatsanwalt.
Joona sieht ihn mit einem eisgrauen Funkeln in den hellen Augen an. Ein Lächeln spielt in den Augenwinkeln, den Ernst in seinem Blick mindert es nicht.
»Penelope Fernandez«, setzt er an, »hatte zuvor auf Deck gesessen und Cannabis geraucht, es war ein heißer Tag, und sie war müde geworden, hatte sich in ihr Bett gelegt, um sich auszuruhen, und war mit Jeansjacke eingeschlafen.«
Er macht eine Geste zu Åhléns jungem Assistenten, der im Türrahmen wartet.
»Frippe hat versprochen, mir bei der Rekonstruktion zu helfen.«
Frippe tritt in seiner abgewetzten, mit Nieten besetzten Lederhose einen Schritt vor und lächelt breit. Seine schwarz gefärbten Haare hängen in Strähnen auf den Rücken hinunter. Sorgsam knöpft er die Jeansjacke über dem schwarzen T-Shirt mit dem Foto der Hardrockgruppe »Europe« zu.
»Seht her«, sagt Joona sanft und demonstriert, wie er mit einer Hand den Stoff beider Jackenärmel packen und Frippes Arme hinter dessen Rücken festhalten kann, während die andere Hand seine langen Haare festhält.
»Ich habe Frippe nun vollkommen in meiner Gewalt, und an seinem Körper wird trotzdem kein einziger blauer Fleck zu finden sein.«
Joona hebt die Arme des jungen Mannes hinter seinem Rücken. Frippe jault auf und beugt sich vor.
»Immer mit der Ruhe«, sagt er lachend.
»Du bist natürlich viel größer als das Opfer, aber ich denke trotzdem, dass ich deinen Kopf in die Wanne drücken kann.«
»Tu ihm nicht weh«, sagt Åhlén.
»Ich werde ihm nur seine Frisur durcheinanderbringen.«
»Vergiss es«, sagt Frippe.
Es entspinnt sich ein stummer Kampf. Åhlén wirkt besorgt und Svanehjälm verlegen. Petter lässt sich zu einem Fluch herab. Joona drückt Frippes Kopf schließlich ohne größere Schwierigkeiten in die Wanne, hält ihn kurz unter Wasser, lässt dann los und weicht zurück. Frippe richtet sich taumelnd auf, und Åhlén eilt mit einem Handtuch zu ihm.
»Es hätte doch völlig gereicht, es uns zu erzählen«, sagt er verärgert.
Als Frippe sich abgetrocknet hat, gehen alle schweigend in den angrenzenden Raum, in dem Verwesungsgeruch in der kühlen Luft hängt. Eine Wand besteht aus Kühlfachluken aus rostfreiem Stahl in drei Ebenen. Åhlén öffnet Luke 16 und zieht ein Schubfach heraus. Auf einer schmalen Pritsche liegt die junge Frau. Nackt und bleich, mit einem braunen Adernetz um den Hals. Joona zeigt auf die dünne, geschwungene Linie über ihrer Brust.
»Zieh dich aus«, sagt er zu Frippe.
Frippe knöpft die Jacke auf und zieht das schwarze T-Shirt aus. Auf seinem Brustkorb hat der Rand der Wanne einen deutlich sichtbaren, hellrosa Abdruck hinterlassen, eine geschwungene Linie, die einem fröhlichen Mund ähnelt.
»Verdammt«, sagt Petter.
Åhlén geht zu der Toten und studiert ihre Kopfhaut. Er zieht eine schmale Taschenlampe heraus und richtet sie auf die weiße Haut unter dem Haar.
»Dafür brauche ich kein Mikroskop, jemand hat ihren Kopf sehr hart an den Haaren festgehalten.«
Er schaltet die Lampe aus und steckt sie in den Arztkittel zurück.
»Und das heißt …«, sagt Joona.
»Und das heißt, dass du natürlich recht hast«, sagt Åhlén und klatscht in die Hände.
»Mord«, seufzt Svanehjälm.
»Beeindruckend«, sagt Frippe und streicht ein wenig Kajal fort, der auf seiner Wange verlaufen ist.
»Danke«, antwortet Joona geistesabwesend.
Åhlén sieht ihn fragend an:
»Was ist los? Joona? Was hast du gesehen?«
»Das ist sie nicht«, sagt er.
»Wie bitte?«
Joona begegnet Åhléns Blick und zeigt anschließend auf die Leiche vor ihnen.