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Nur eine Person befand sich außerhalb dieses Kreises. Es war ein Mann, der ein wenig abseitsstand, das Gesicht dem Wald zugewandt, als würde er Besuch erwarten. Penelope blieb abrupt stehen und hielt Björn an der Hand fest. Sie sanken zu Boden und schoben sich hinter eine kleine Fichte. Björn sah sie ängstlich, verständnislos an, aber sie wusste genau, was sie gesehen hatte. Der Verfolger hatte den Kurs ihrer Flucht berechnet und das Haus noch vor ihnen erreicht. Er hatte erkannt, wie unwiderstehlich ihnen das Licht und die Partygeräusche erscheinen würden. Er wusste, dass sie wie Nachtfalter hierherfinden würden. Also wartete er, hielt zwischen den dunklen Bäumen Ausschau nach ihnen und wollte sie etwas höher, am Waldsaum, abfangen. Er machte sich keine Sorgen, dass die feiernden Menschen Schreie hören würden. Er wusste, dass sie sich erst in den Wald hineinwagen würden, wenn es längst zu spät war.

Als Penelope wieder hinzuschauen wagte, war er verschwunden. Das Adrenalin, das in ihr Blut gepumpt worden war, ließ sie zittern. Vielleicht glaubte der Verfolger, dass er sich geirrt hatte, dachte sie und ließ suchend den Blick schweifen.

Vielleicht war er in eine andere Richtung gelaufen.

Für einen kurzen Moment dachte sie, dass ihre Flucht vielleicht vorbei war und sie und Björn zu dem Fest hinuntergehen und die Polizei rufen konnten, als sie ihn plötzlich wieder sah.

Er stand ganz dicht an einen Baumstamm gepresst, nicht weit von ihnen. Mit gemessenen Bewegungen hob der Verfolger ein schwarzes Fernglas mit grünlichen Linsen an die Augen.

Penelope duckte sich neben Björn, kämpfte gegen den Impuls an, kopflos zu fliehen, immer weiter zu laufen. Sie sah den Mann zwischen den Bäumen vor sich, der das optische Gerät an die Augen hob, und überlegte, dass es sich entweder um eine Wärmebildkamera oder ein Nachtsichtgerät handeln musste.

Penelope nahm Björns Hand und zog ihn geduckt mit sich, fort von dem Haus und der Musik, zurück in den Wald. Nach einer Weile wagten sie es, sich aufzurichten. Sie liefen schräg an einem Hügel entlang, der von der kilometerdicken Eisschicht, die sich einst über Nordeuropa gewälzt hatte, sanft gerundet war. Sie rannten quer durch dichtes Gestrüpp, hinter einen großen Stein und über eine gezackte Felskuppe. Björn schnappte sich mit einer Hand einen kräftigen Ast und rutschte vorsichtig über den Rand. Penelopes Herz pochte heftig, ihre Oberschenkelmuskeln zitterten, und sie versuchte vergeblich, lautlos zu atmen. Sie glitt den rauen Fels hinunter, riss feuchtes Moos und Tüpfelfarn mit sich und landete hinter den dichten Zweigen einer Fichte. Björn hatte nur seine knielange Badehose an, sein Gesicht war blass, die Lippen fast weiß.

15

Die Identifizierung

Es klingt, als würde jemand ein ums andere Mal einen Ball gegen die Fassade unterhalb von Nils Åhléns Fenster werfen. Er und Kriminalkommissar Joona Linna warten schweigend auf Claudia Fernandez, die an diesem frühen Sonntagmorgen in die Pathologie gebeten wurde, um die Identität der getöteten Frau zu bestätigen.

Als Joona sie anrief, um ihr mitzuteilen, dass die Polizei befürchtete, ihre Tochter Viola könnte ums Leben gekommen sein, hatte die Stimme der Frau seltsam ruhig geklungen.

»Nein, Viola ist mit ihrer Schwester in den Schären«, hatte sie gesagt.

»Auf Björn Almskogs Boot?«, hatte Joona gefragt.

»Ja, ich hatte ihr gesagt, dass sie Penelope anrufen und sie fragen soll, ob sie mitkommen darf. Ich fand, dass sie mal rausmusste.«

»Sollte sonst noch jemand mitkommen?«

»Björn natürlich.«

Joona hatte geschwiegen, und einige Sekunden waren verstrichen, in deren Verlauf er versucht hatte, dieses beklemmende Gefühl zu verdrängen. Dann hatte er sich geräuspert und ganz sanft gesagt:

»Frau Fernandez, ich möchte Sie bitten, zur Rechtsmedizin in Solna zu kommen.«

»Warum?«, hatte sie gefragt.

Nun sitzt Joona auf einem unbequemen Stuhl im Zimmer des Chefpathologen. Åhlén hat am unteren Rand des Rahmens seines Hochzeitsfotos ein kleines Bild von Frippe befestigt. Gedämpft hört man den Ball gegen die Fassade prallen. Joona muss daran denken, wie sich Claudia Fernandez’ Atemzüge veränderten, als ihr schließlich dämmerte, dass die Leiche, die man gefunden hatte, tatsächlich ihre Tochter sein könnte. Joona hatte ihr behutsam erläutert, dass die Frau, von der sie annahmen, es könnte ihre Tochter sein, auf einer verlassenen Motorjacht in den Stockholmer Schären tot aufgefunden worden war.

Ein Taxi hat Claudia Fernandez in ihrem Reihenhaus in Gustavsberg vor den Toren Stockholms abgeholt. In wenigen Minuten müsste sie in der Pathologie eintreffen.

Åhlén versucht halbherzig, Konversation zu machen, gibt jedoch nach einer Weile auf, als er merkt, dass Joona sich nicht darauf einlässt.

Beide sehnen sich danach, die Sache hinter sich zu bringen. Eine positive Identifizierung ist jedes Mal ein erschütternder Moment. In einem einzigen Augenblick vermischt sich die Erleichterung darüber, dass jegliche Ungewissheit verflogen ist, mit dem Schmerz darüber, dass man alle Hoffnung fahren lassen muss.

Als sie Schritte auf dem Korridor hören, stehen sie gleichzeitig von ihren Stühlen auf.

Den toten Körper eines Angehörigen zu sehen ist eine unerbittliche Bestätigung der schlimmsten Befürchtungen. Gleichzeitig ist es jedoch auch ein wichtiger, notwendiger Teil der Trauerarbeit. Joona hat viele Argumente gelesen, die dafür sprechen, dass die Identifizierung auch eine Art Befreiung sein kann. Es bleibt kein Spielraum mehr für wüste Spekulationen, in denen der geliebte Mensch noch lebt, für Fantasien, die nur Leere und Frustration hinterlassen.

Aber das ist alles bloß leeres Gerede, denkt Joona. Der Tod ist einfach nur schrecklich und lässt nie etwas zurück.

Claudia Fernandez steht in der Tür, sie ist eine Frau von etwa sechzig Jahren. Eine ängstliche Frau. Spuren von Tränen und Sorge zeichnen ihr Gesicht, und ihr Körper wirkt verfroren und zusammengekauert.

Joona begrüßt sie behutsam.

»Hallo, ich bin Joona Linna, Kriminalkommissar. Wir haben telefoniert.«

Åhlén stellt sich unhörbar vor, als er der Frau ganz kurz die Hand gibt und ihr unmittelbar darauf den Rücken zukehrt und vorgibt, etwas in einem Ordner zu suchen. Er wirkt ausgesprochen abweisend, aber Joona weiß, dass er in Wahrheit nur extrem verlegen ist.

»Ich habe versucht, meine Mädchen anzurufen, aber ich erreiche sie nicht«, flüstert Claudia Fernandez. »Sie müssten …«

»Wollen wir gehen?«, sagt Åhlén, als hätte er ihre Worte nicht gehört.

Schweigend bewegen sie sich durch den vertrauten Flur. Joona kommt es vor, als würde die Luft mit jedem Schritt dünner. Claudia Fernandez hat es nicht eilig, dem entscheidenden Augenblick näher zu kommen. Sie geht langsam, bleibt mehrere Meter hinter Åhlén zurück, dessen große, scharf geschnittene Gestalt ihnen vorauseilt. Joona Linna dreht sich um und versucht, Claudia zuzulächeln, muss sich jedoch gegen den Blick in ihren Augen wehren. Die Panik, das Flehen, die Gebete, die Versuche, mit Gott zu verhandeln. Es kommt ihm vor, als müssten sie die Frau in den kühlen Raum zwingen, in dem die Leichen verwahrt werden.

Åhlén murmelt etwas in einem wütenden Tonfall, bückt sich, öffnet das Schloss zu der Luke aus rostfreiem Stahl und zieht die Lade heraus. Die junge Frau wird sichtbar, ihr Körper ist von einem weißen Tuch bedeckt. Ihre Augen sind matt, halb geschlossen, die Wangen eingefallen. Ihre Haare liegen in einem schwarzen Kranz um ihren schönen Kopf. An ihrer Hüfte ist eine kleine blasse Hand zu sehen.

Claudia Fernandez atmet schnell. Sie berührt zärtlich die Hand, jammert. Der Laut kommt von tief innen, als ginge ihre Seele in diesem Moment entzwei. Sie beginnt, am ganzen Körper zu zittern, fällt auf die Knie und hält sich die leblose Hand der Tochter an den Mund.

»Nein, nein«, weint sie. »Oh Gott, guter Gott, nicht Viola. Nicht Viola …«

Joona steht einige Schritte hinter Claudia, sieht ihren Rücken, der unter den Schluchzern bebt, hört die Stimme, das verzweifelte Weinen, das sich steigert und dann langsam verebbt.