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Claudia Fernandez streicht sich die Tränen aus dem Gesicht, atmet aber immer noch zitternd, als sie vom Boden aufsteht.

»Können Sie uns bestätigen, dass dies Ihre Tochter ist?«, fragt Åhlén kurz angebunden. »Ist das Viola Fernandez, die hier …«

Seine Stimme erstickt, und er räuspert sich schnell und wütend.

Claudia Fernandez schüttelt den Kopf und bewegt vorsichtig die Fingerspitzen über die Wange ihrer Tochter.

»Viola,Violita …«

Zitternd zieht sie die Hand zurück, und Joona sagt langsam:

»Es tut mir wirklich sehr, sehr leid.«

Claudia Fernandez bricht fast zusammen, stützt sich jedoch an der Wand ab, wendet das Gesicht ab und flüstert:

»Am Samstag gehen wir in den Zirkus, ich werde Viola überraschen …«

Gemeinsam betrachten sie die tote Frau, die bleichen Lippen, die Adern am Hals.

»Ich habe Ihren Namen vergessen«, sagt Claudia Fernandez verloren und sieht Joona an.

»Joona Linna«, sagt er.

»Joona Linna«, wiederholt die Frau mit belegter Stimme. »Ich werde Ihnen von Viola erzählen. Sie ist mein kleines Mädchen, mein Nesthäkchen, meine fröhliche kleine …«

Sie wirft einen Blick auf Violas bleiches Gesicht und wankt zur Seite. Åhlén zieht einen Stuhl heran, aber sie schüttelt nur kurz den Kopf.

»Entschuldigen Sie«, sagt sie. »Es ist nur, dass … Meine ältere Tochter, Penelope, musste in El Salvador schreckliche Dinge durchmachen. Wenn ich daran denke, was sie mir dort im Gefängnis angetan haben, wenn ich mich daran erinnere, wie sehr sich Penelope fürchtete, wie sie weinte und nach mir rief … stundenlang, aber ich konnte ihr nicht antworten, sie nicht schützen …«

Claudia Fernandez begegnet Joonas Blick und macht einen Schritt auf ihn zu, und er legt sanft den Arm um sie. Sie lehnt sich schwer an seine Brust, ringt nach Luft. Dann tastet sie nach der Rückenlehne des Stuhls und setzt sich.

»Ich bin immer … stolz darauf gewesen, dass die kleine Viola in Schweden geboren wurde. Sie hatte ein schönes Zimmer mit einer rosa Lampe an der Decke, Spielzeug und Puppen, sie ging in die Schule, guckte Pippi Langstrumpf … Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können, aber ich bin stolz gewesen, dass sie niemals hungern oder Angst haben musste. Nicht wie wir … wie Penelope und ich, wir wachen nachts auf, sind darauf gefasst, dass jemand hereinkommt und schreckliche Dinge tut.«

Sie verstummt und flüstert nach einer Pause:

»Viola ist immer nur fröhlich gewesen und …«

Claudia verbirgt ihr Gesicht in beiden Händen und weint still. Joona legt seine Hand auf ihren Rücken.

»Ich gehe jetzt«, sagt sie immer noch weinend.

»Es besteht keine Eile.«

»Haben Sie mit Penelope gesprochen?«, fragt sie nach einer Weile.

»Wir haben sie noch nicht erreicht«, antwortet Joona leise.

»Sagen Sie ihr, dass sie mich anrufen soll …« Claudia erblasst. »Ich denke, dass sie nicht ans Telefon geht, wenn ich anrufe, weil ich … ich war … ich habe etwas Furchtbares zu ihr gesagt, aber ich habe es nicht so gemeint, ich habe doch nicht gemeint …«

»Wir suchen mit Hubschraubern nach Penelope und Björn Almskog, aber …«

»Bitte, sagen Sie mir, dass sie lebt«, flüstert sie Joona zu, »sagen Sie es, Joona Linna.«

Joona fühlt, wie er verkrampft, während er Claudia Fernandez behutsam über den Rücken streicht.

»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um …«

»Sie lebt, sagen Sie es«, unterbricht Claudia ihn. »Sie muss leben.«

»Ich werde sie finden«, sagt Joona. »Ich weiß, dass ich sie finden werde.«

»Sagen Sie, dass Penelope lebt.«

Joona zögert und begegnet Claudias finsterem Blick, Gedanken huschen durch seinen Geist und verknüpfen sich zu flüchtigen Kombinationen, und plötzlich hört er sich sagen:

»Sie lebt.«

»Ja«, flüstert Claudia.

Joona senkt den Blick, bekommt die Gedanken, die noch vor wenigen Sekunden durch sein Bewusstsein zogen und ihn veranlassten, seine Meinung zu ändern und Claudia Fernandez zu bestätigen, dass ihre ältere Tochter noch lebt, nicht mehr zu fassen.

16

Der Irrtum

Joona begleitet Claudia Fernandez zum wartenden Taxi, hilft ihr hinein und bleibt stehen, bis der Wagen verschwunden ist. Dann durchwühlt er seine Taschen nach seinem Handy, muss aber erkennen, dass er es irgendwo vergessen hat. Also eilt er in die rechtsmedizinische Abteilung zurück, geht schnell in Åhléns Büro, nimmt dessen Telefon aus der Basisstation, setzt sich auf den Schreibtischstuhl und wählt Erixons Nummer.

»Lass die Leute ausschlafen«, meldet sich Erixon. »Immerhin ist heute Sonntag.«

»Gib zu, dass du auf dem Boot bist.«

»Ich bin auf dem Boot«, gesteht Erixon.

»Also gab es keine Sprengladung«, sagt Joona.

»Nicht im üblichen Sinne – aber du hattest trotzdem recht. Es hätte jederzeit explodieren können.«

»Wie meinst du das?«

»Die Kabelisolierung ist an einer Stelle stark beschädigt, es sieht aus wie ein Klemmschaden … das Metall berührt sich nicht, denn wenn es das täte, würde sofort die Sicherung rausfliegen. Aber es ist freigelegt. Wenn man die Maschine anlässt, kommt es ziemlich schnell zu einem Spannungsüberschlag mit Lichtbogen.«

»Was passiert dann?«

»Diese Lichtbögen haben eine Temperatur von mehr als 3000 Grad. Sie sollten ein altes Stuhlkissen anflämmen, das jemand an die Stelle gedrückt hat. Das Feuer hätte dann den Schlauch der Treibstoffpumpe erreicht und …«

»Ein schneller Verlauf?«

»Also … bis ein Lichtbogen entsteht, kann es schon zehn Minuten dauern, vielleicht auch länger. Aber danach geht alles ziemlich flott – Feuer, noch mehr Feuer, Explosion – die Jacht füllt sich praktisch sofort mit Wasser und sinkt.«

»Also wäre es ziemlich schnell zu einem Brand und einer Explosion gekommen, wenn der Motor des Boots gelaufen wäre?«

»Ja, aber deshalb muss es noch lange nicht so arrangiert worden sein«, sagt Erixon.

»Dann könnten die Kabel also auch rein zufällig beschädigt gewesen und das Stuhlkissen irgendwie dort gelandet sein?«

»Zweifellos«, antwortet Erixon.

»Aber du glaubst das nicht?«

»Nein.«

»Wenn das der Mörder getan hat …«

»Dann haben wir es mit einem besonderen Mörder zu tun«, ergänzt Erixon.

Die meisten Mörder handeln im Affekt, selbst wenn sie die Tat geplant haben. Es sind stets große Gefühle im Spiel, und der Mord hat oftmals eine hysterische Note. Erst hinterher entsteht der Plan, folgen die Versuche, Spuren zu vertuschen und ein Alibi zu konstruieren. In diesem Fall scheint der Täter dagegen von Anfang an eine raffinierte Strategie verfolgt zu haben.

Trotzdem ist etwas schiefgegangen.

Joona starrt eine Weile ins Leere und schreibt dann Viola Fernandez auf das oberste Blatt von Åhléns Notizblock. Er umkringelt den Namen und schreibt anschließend »Penelope Fernandez« und Björn Almskog darunter. Die beiden Frauen sind Schwestern. Penelope und Björn sind ein Paar. Björn ist der Besitzer des Boots. Viola fragt in letzter Sekunde, ob sie mitkommen kann.

Es wird ein langer Weg werden, das Motiv für diesen Mord zu ermitteln. Joona weiß, vor Kurzem hat er gedacht, dass Penelope Fernandez noch lebt. Es war nicht nur eine vage Hoffnung oder der Versuch, Trost zu spenden, sondern eine Ahnung – aber auch nicht mehr. Der Gedanke ist ihm zugeflogen, aber im selben Moment ist er ihm auch schon wieder entglitten.

Würde man nach den systematischen Vorgaben der Landesmordkommission arbeiten, würde der Verdacht zunächst auf Violas Freund fallen, eventuell auch auf Penelope und Björn, weil sie sich auf der Jacht aufhielten. Alkohol und andere Drogen müssten eine Rolle spielen. Vielleicht hat es einen Streit, ein heftiges Eifersuchtsdrama gegeben. Leif G. W. Persson wird schon bald den Zuschauern im Fernsehen erklären, dass der Täter jemand aus Violas Umfeld ist, wahrscheinlich ein Liebhaber oder früherer Liebhaber.