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Penelope eilt durch die Zimmer, aber das Haus ist leer. Die Bewohner übernachten nach der Party bestimmt bei ihren Nachbarn, überlegt sie, stellt sich, hinter dem Vorhang verborgen, ans Fenster und sieht hinaus. Sie wartet einen Moment, kann aber weder im Wald noch auf dem Rasen und der Auffahrt Bewegungen ausmachen. Vielleicht hat ihr Verfolger endlich ihre Spur verloren, vielleicht wartet er noch in der Nähe des anderen Hauses. Sie kehrt in den Flur zurück und sieht, dass Björn auf dem Boden sitzt und die Wunden an seinen Füßen untersucht.

»Du musst dir ein Paar Schuhe suchen«, sagt sie.

Er schaut mit leerem Blick zu ihr hoch, als verstünde er ihre Sprache nicht.

»Es ist noch nicht vorbei«, sagt sie. »Du musst was für deine Füße finden.«

Björn wühlt in dem Kleiderschrank im Flur, reißt Strandschuhe, Gummistiefel und alte Taschen heraus.

Penelope vermeidet alle Fenster, bewegt sich jedoch schnell, als sie nach einem Telefon Ausschau hält, sie sucht auf dem Flurtisch, in der Aktentasche auf der Couch, in der Schüssel auf dem Couchtisch und zwischen Schlüsseln und Papieren von der Wegegemeinschaft auf der Arbeitsfläche in der Küche.

Von draußen dringt ein Geräusch an ihr Ohr, und sie bleibt stehen und lauscht.

Vielleicht hat sie sich getäuscht.

Die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen scheinen zum Fenster herein.

Geduckt huscht sie in das große Schlafzimmer, zieht die Schubladen einer Kommode heraus und sieht, dass zwischen der Unterwäsche ein gerahmtes Familienbild liegt. Eine Porträtaufnahme, in einem Fotoatelier entstanden, Mann und Frau und zwei Töchter im Teenageralter. Die anderen Schubladen sind leer. Penelope öffnet den Kleiderschrank, zieht die wenigen Kleidungsstücke von den Stahlbügeln, nimmt eine schwarze Kapuzenjacke mit, die für eine Fünfzehnjährige gedacht zu sein scheint, sowie einen Strickpullover.

Sie hört Wasser aus dem Hahn in der Küche laufen und eilt dorthin. Björn beugt sich über die Spüle und trinkt. Seine Füße stecken in einem Paar ausgelatschter Turnschuhe, die ihm ein wenig zu groß sind.

Wir müssen jemanden finden, der uns helfen kann, denkt sie. Das gibt es ja gar nicht, hier müssen doch überall Menschen sein.

Als Penelope zu Björn geht und ihm den Strickpullover gibt, klopft es an die Tür. Björn lächelt überrascht, zieht den Pullover über und murmelt, dass sie anscheinend endlich mal ein bisschen Glück haben. Penelope geht Richtung Flur und streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Sie ist fast an der Tür, als sie durch die Milchglasscheibe die Silhouette sieht.

Sie bleibt abrupt stehen und betrachtet den Schatten durch die trübe Glasscheibe. Sie erkennt seine Körperhaltung, die Form von Kopf und Schultern.

Ihr bleibt die Luft weg.

Langsam weicht sie rückwärts zur Küche zurück, es zuckt in ihr, sie würde gerne losrennen, ihr Körper will laufen. Sie starrt die Glasscheibe an, das verschwommene Gesicht, das schmale Kinn. Ihr ist schwindlig, sie bewegt sich nach hinten, tritt auf Taschen und Stiefel und streckt die Hand aus, um sich an der Wand abzustützen. Ihre Finger gleiten über die Tapete und stoßen an den Spiegel, sodass er schief hängt.

Björn stellt sich neben sie, er hält ein Küchenmesser in der Hand, ein Tranchiermesser mit breiter Klinge. Seine Wangen sind bleich, der Mund steht halb offen, seine Augen starren auf die Glasscheibe.

Penelope stößt gegen eine Tischplatte und sieht gleichzeitig, dass die Klinke langsam heruntergedrückt wird. Schnell geht sie ins Badezimmer, dreht die Wasserhähne auf und ruft mit lauter Stimme.

»Herein! Die Tür ist offen!«

Björn zuckt zusammen, die Pulsschläge pochen in seinem Kopf, er hält das Messer vor sich ausgestreckt und ist bereit, sich zu verteidigen oder anzugreifen, als er sieht, dass der Verfolger die Klinke vorsichtig wieder loslässt. Die Silhouette verschwindet vom Fenster, und wenige Sekunden später hören sie auf dem Steinplattenweg neben dem Haus Schritte. Penelope kommt aus dem Badezimmer. Er zeigt auf das Fenster im Wohnzimmer, und sie verziehen sich in die Küche und hören den Mann über die hölzerne Veranda gehen. Die Schritte führen am Fenster vorbei und erreichen die Verandatür. Penelope fragt sich, was der Verfolger sehen kann, ob er die herumliegenden Schuhe im Flur und Björns Blutspur auf dem Fußboden aus diesem Winkel und in diesem Licht erkennen kann. Die Holzfläche draußen reibt sich knarrend an der Treppe, die auf die Rückseite hinunterführt. Der Mann geht um das Haus herum, ist auf dem Weg zum Küchenfenster. Björn und Penelope legen sich auf den Boden, rollen sich direkt unter dem Fenster dicht an die Wand. Sie versuchen, still zu liegen, lautlos zu atmen. Sie hören ihn ans Fenster treten, seine Hände wischen über das Fensterblech, und sie begreifen, dass er in die Küche sieht.

Penelope entdeckt, dass sich das Fenster in der Glasscheibe der Ofenluke spiegelt, und kann in dem Spiegelbild sehen, wie der Verfolger suchend den Blick durch den Raum schweifen lässt. Er könnte ihren Augen begegnen, wenn er auf die Luke sähe. Bald wird ihm klar sein, dass sie sich in diesem Haus verstecken.

Das Gesicht am Fenster verschwindet, und sie hören erneut Schritte auf der Holzterrasse, diesmal entfernen sie sich in Richtung des Plattenwegs, der auf die Vorderseite führt. Als die Haustür geöffnet wird, bewegt sich Björn schnell zur Küchentür, legt leise das Messer fort, dreht den Schlüssel, der im Schloss steckt, stößt die Tür auf und läuft aus dem Haus.

Penelope folgt ihm in den kühlen Morgen hinaus. Sie laufen über den Rasen, am Komposthaufen vorbei und in den Wald hinein. Dort ist es noch dunkel, aber das flache Licht der Morgendämmerung findet mehr und mehr den Weg zwischen die Bäume. Die Angst holt Penelope ein, stößt sie voran, wirbelt die Panik in ihrer Brust wieder auf. Sie weicht dickeren Ästen aus, springt über flache Sträucher oder Steine. Schräg hinter sich hört sie Björn, seine heftigen Atemzüge. Und hinter ihm ahnt sie unvermindert den anderen, den Mann, der ihr wie ein Schatten vorkommt. Er folgt ihnen, und sie weiß, dass er sie töten will, sobald er sie gefunden hat. Sie erinnert sich an etwas, was sie einmal irgendwo gelesen hat. Es ging um eine Frau in Ruanda, die den Völkermord der Hutu an den Tutsis überlebte, indem sie sich in den Sümpfen versteckte und jeden Tag lief, während all der Monate lief, die der Völkermord andauerte. Ihre früheren Nachbarn und Freunde verfolgten sie mit Macheten. Wir haben die Antilopen nachgeahmt, hatte die Frau in dem Buch erklärt. Wir Überlebenden im Dschungel ahmten die Flucht der Antilopen vor den Raubtieren nach. Wir liefen, entschieden uns für unerwartete Wege, teilten uns auf und wechselten die Richtung, um unsere Verfolger zu verwirren.

Penelope weiß, dass es vollkommen falsch ist, wie Björn und sie fliehen. Sie laufen planlos, gedankenlos, und das gereicht nicht ihnen, sondern ihrem Verfolger zum Vorteil. Sie und Björn laufen ohne List. Sie wollen nach Hause, sie wollen Hilfe suchen, sie wollen die Polizei anrufen. All das weiß ihr Verfolger, ihm ist bewusst, dass sie nach Menschen suchen werden, die ihnen helfen können, dass sie den Weg zu Ortschaften, zum Festland suchen werden, um nach Hause zu kommen.

Penelope reißt sich an einem heruntergefallenen Ast ein Loch in ihre Trainingshose. Sie stolpert einige Schritte, läuft aber weiter, nimmt den Schmerz bloß als brennende Schlinge um ihr Bein wahr.

Sie dürfen nicht stehen bleiben, sie hat Blutgeschmack im Mund, Björn stolpert durch ein Dickicht; an einem großen umgestürzten Baum, in dessen erdigem Schlund Wasser steht, schlagen sie eine andere Richtung ein.

Während sie neben Björn läuft, lässt ihre Angst jäh und unerwartet eine Erinnerung aufblitzen, in der ihre Furcht genauso groß war wie jetzt. Plötzlich muss sie an ihre Zeit in Darfur denken, die Augen der Menschen, den anderen Blick all jener, die traumatisiert waren, die nicht mehr konnten, im Gegensatz zu denen, die noch kämpften, die sich weigerten aufzugeben. Niemals wird sie die Kinder vergessen, die eines Nachts mit einem geladenen Revolver nach Kubbum kamen. Niemals wird sie die Angst vergessen, die sie damals empfand.