21
Der Staatsschutz
Die Zentrale des Staatsschutzes befindet sich in der dritten Etage des großen Landespolizeiamts mit Eingang in der Polhemsgatan. Auf dem Pausenhof des Untersuchungsgefängnisses, der auf dem Dach desselben Gebäudes liegt, ertönt eine Trillerpfeife. Der Leiter der Abteilung für Sicherheitsmaßnahmen heißt Verner Zandén. Er ist ein großer Mann mit spitzer Nase, kleinen, pechschwarzen Augen und einer sehr tiefen Stimme. Er sitzt hinter seinem Schreibtisch mit weit gespreizten Beinen auf einem Bürostuhl und hält beruhigend eine Hand hoch. Durch das kleine Fenster zum Innenhof fällt bleiches Licht herein. In dem ungewöhnlich tristen Raum steht eine junge Frau namens Saga Bauer. Sie ist Kommissarin und hat sich auf Terrorismusabwehr spezialisiert. Saga Bauer ist erst fünfundzwanzig Jahre alt und hat grüne, gelbe und rote Stoffbändchen in ihre langen blonden Haare geflochten. Sie trägt eine Pistole größeren Kalibers in einem Schulterhalfter unter einer offenen Trainingsjacke mit Kapuze und einem Aufdruck des Boxvereins Narva.
»Mehr als ein Jahr habe ich den Einsatz geleitet«, sagt sie flehend. »Ich habe gefahndet, ich habe Wochenenden und Nächte darauf verwandt …«
»Aber das hier ist etwas anderes«, unterbricht ihr Chef sie lächelnd.
»Bitte, bitte … Du kannst mich nicht schon wieder einfach übergehen.«
»Übergehen? Ein Kriminaltechniker der Landeskripo ist schwer verletzt worden, ein Kommissar wurde angegriffen, die Wohnung hätte explodieren können und …«
»Das weiß ich alles, deshalb muss ich da jetzt hin …«
»Ich habe Göran Stone geschickt.«
»Göran Stone? Ich arbeite hier seit drei Jahren, ich habe nichts zu Ende bringen dürfen, dabei ist das mein Spezialgebiet. Göran hat von so was doch überhaupt keine Ahnung und …«
»In der Kanalisation hat er sich gut geschlagen.«
Saga schluckt.
»Das war auch mein Fall, ich habe die Verbindung zwischen …«
»Aber die Sache wurde gefährlich, und ich bin nach wie vor der Meinung, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.«
Saga wird rot, senkt den Blick, sammelt sich und versucht, ruhig zu sprechen.
»Ich schaffe das schon, genau dafür bin ich ausgebildet worden …«
»Mag sein, aber ich bin nun einmal zu einer anderen Einschätzung gelangt …«
Er zupft an seiner Nase, seufzt und legt die Füße auf den Papierkorb unter dem Schreibtisch.
»Du weißt, dass ich nicht das Ergebnis eines Gleichstellungsplans bin«, erklärt Saga langsam. »Ich bin nicht wegen irgendeiner Frauenquote hier, sondern weil ich bei allen Tests die Beste in meiner Gruppe gewesen bin, ich war die Beste Scharfschützin, die es jemals gab, ich habe zweihundertzehn verschiedene Fälle …«
»Ich mache mir doch nur Sorgen um dich«, sagt er schwach und begegnet dem Blick ihrer hellblauen Augen.
»Aber ich bin kein Püppchen, ich bin keine Prinzessin oder Elfe.«
»Aber du bist so … so …« Verner errötet heftig und hebt die Hände in einer hilflosen Geste. »Okay, verdammt, dann machen wir es eben so, du leitest die Ermittlungen, aber Göran Stone bleibt dabei und passt auf dich auf.«
»Danke«, sagt sie und lächelt erleichtert.
»Aber vergiss bitte nicht, die Sache ist kein Kinderspiel. Penelope Fernandez’ Schwester ist tot, die Frau wurde förmlich hingerichtet, Penelope ist verschwunden …«
»Und ich habe bei mehreren linksextremistischen Gruppierungen verstärkte Aktivitäten festgestellt«, fällt Saga ihm ins Wort. »Wir untersuchen, ob die Revolutionäre Front für den Diebstahl von Sprengstoff in Vaxholm verantwortlich ist.«
»Das Wichtigste ist natürlich herauszufinden, ob eine unmittelbare Bedrohung vorliegt«, sagt Verner.
»Im Moment verläuft die Radikalisierung gewisser Kreise ziemlich rapide. Ich habe eben erst mit Dante Larsson vom Militärischen Nachrichtendienst gesprochen, und er meint, dass man dort in diesem Sommer mit Sabotageakten rechnet.«
»Aber im Moment konzentrieren wir uns auf Penelope Fernandez«, erwidert Verner lächelnd.
»Natürlich. Ja, selbstverständlich.«
»Die kriminaltechnische Untersuchung führen wir in Zusammenarbeit mit der Landeskripo durch, aber ansonsten sollen die aus der Sache möglichst rausgehalten werden.«
Saga Bauer nickt und wartet kurz, ehe sie ihre Frage stellt.
»Werde ich diesen Fall zu Ende führen dürfen? Das ist wichtig für mich, denn …«
»Solange du sattelfest bist«, unterbricht er sie, »aber wir haben keine Ahnung, wo das alles enden wird, momentan wissen wir ja nicht einmal, wo es anfängt.«
22
Das Unfassbare
An der Rekylgatan in Västerås liegt ein lang gestrecktes, leuchtend weißes Hochhaus. Wer in diesem Häuserblock wohnt, hat es nicht weit zur Lillhagsschule, zum Fußball- und zum Tennisplatz.
Aus dem Eingang von Hausnummer 1 tritt ein junger Mann mit einem Motorradhelm in der Hand. Sein Name ist Stefan Bergkvist, und er ist knapp siebzehn Jahre alt, besucht den mechatronischen Zweig des Gymnasiums und wohnt mit seiner Mutter und deren Lebensgefährten zusammen.
Er hat lange blonde Haare und einen Silberring in der Unterlippe, trägt ein schwarzes T-Shirt und Baggy Pants, deren Saum von den Turnschuhen kaputt getreten sind.
Gemächlich schlendert er zum Parkplatz, hängt den Helm an den Lenker seines Motocrossmotorrads und fährt langsam auf dem Fußweg um das Haus herum, dann parallel zu den zweispurigen Eisenbahngleisen, durch die Unterführung unter der nördlichen Umgehungsstraße hindurch in das große Industriegebiet. Dort hält er neben einem Bauwagen, der mit blauen und silberfarbenen Graffiti bemalt ist.
Stefan und seine Freunde treffen sich hier regelmäßig und fahren Rennen auf der Motorcrossstrecke, die sie am Bahnwall angelegt haben, sie fahren über die verschiedenen Nebengleise und zurück zum Terminalvägen.
Vier Jahre kommen sie schon an diesen Ort, seit sie den Schlüssel zu dem Bauwagen an einem Nagel an der Rückseite zwischen den Disteln gefunden haben. Der Bauwagen steht dort seit fast zehn Jahren. Aus irgendeinem Grund wurde er nach dem Bau einer großen Fabrik vergessen.
Stefan lässt sein Motorrad stehen. Er schließt das Vorhängeschloss auf, klappt den Stahlriegel herunter und öffnet die Holztür. Er betritt den Wagen, schließt die Tür hinter sich, schaut auf die Uhrzeit im Display seines Handys und sieht, dass seine Mutter angerufen hat.
Er merkt nicht, dass er von einem etwa sechzigjährigen Mann in einer grauen Wildlederjacke und hellbrauner Hose beobachtet wird. Der Mann steht hinter einem Müllcontainer neben einem flachen Industriebau auf der anderen Seite der Bahnstrecke.
Stefan geht zur Miniküche, greift nach einer Chipstüte, die in der Spüle liegt, schüttelt die letzten Krümel in seine Hand und isst sie.
Durch zwei schmutzige, vergitterte Fenster fällt Licht in den Bauwagen.
Stefan wartet auf seine Freunde und blättert ein wenig in einer der alten Zeitschriften, die auf dem Zeichenschrank liegen geblieben sind. Auf dem Titelblatt der Illustrierten »Lektyr« mit der Schlagzeile »Super, man lässt sich lecken und wird auch noch dafür bezahlt!« sieht man eine junge Frau mit nackten Brüsten.
Ohne Eile verlässt der Mann in der Wildlederjacke sein Versteck, geht an einem Hochspannungsmast mit herunterhängenden Stromleitungen vorbei und überquert den Bahndamm. Er geht zu Stefans Motorrad, klappt den Ständer hoch und rollt es zur Tür des Bauwagens.
Der Mann sieht sich um und legt anschließend das Motorrad vor die Tür des Bauwagens und drückt es mit dem Fuß fest dagegen, sodass es die Tür verkeilt. Anschließend schraubt er den Tankdeckel ab und lässt das Benzin unter den Bauwagen laufen.
Stefan blättert weiter in der alten Illustrierten, betrachtet die vergilbten Fotos von Frauen in Gefängniskulisse. Eine Blondine sitzt mit weit gespreizten Schenkeln in einer Zelle und zeigt einem Wärter ihr Geschlecht. Stefan starrt das Bild an und zuckt zusammen, als von draußen ein rasselndes Geräusch an sein Ohr dringt. Er lauscht, glaubt Schritte zu hören und schlägt hastig die Illustrierte zu.