Joona nimmt ihre Hände und sagt, dass er alles tun wird, was in seiner Macht steht.
»Sie müssen Ihre Tochter zurückbekommen«, flüstert er.
Sie nickt, dann trennen sich ihre Wege.
Joona eilt die Bergsgatan hinab und blinzelt in den Himmel, während er zu seinem Auto geht. Im letzten Sommer saß er im Krankenhaus und hielt die Hand seiner Mutter. Sie unterhielten sich wie üblich auf Finnisch. Er sagte, dass sie zusammen nach Karelien fahren würden, sobald es ihr besser ginge. Sie war dort geboren, in einem kleinen Dorf, das im Gegensatz zu vielen anderen im Zweiten Weltkrieg nicht von den Russen niedergebrannt worden war. Seine Mutter hatte erwidert, es sei wohl besser, wenn er mit einem von denen nach Karelien fahren würde, die auf ihn warteten.
Im »Il Caffè« kauft Joona eine Flasche San Pellegrino und leert sie, noch ehe er sich in das heiße Auto setzt. Das Lenkrad glüht, und der Sitz brennt im Rücken. Statt zur Polizeihochschule zu fahren, kehrt er in die Sankt Paulsgatan 3 zurück, zur Wohnung von Penelope Fernandez. Er denkt an den Mann, dem er in ihrer Wohnung begegnet ist. Seine Bewegungen sind ungewöhnlich schnell und genau gewesen, so als wäre sein Messer lebendig gewesen.
Rund um den Hauseingang sind blaue und weiße Plastikbänder mit den Worten »Polizei« und »Absperrung« gespannt.
Joona weist sich vor dem uniformierten Polizisten aus und schüttelt ihm anschließend die Hand. Sie sind sich sporadisch begegnet, haben aber nie zusammengearbeitet.
»Heiß heute«, sagt Joona.
»Soll das ein Witz sein?«, erwidert der Beamte.
»Wie viele Techniker sind vor Ort?«, fragt er und nickt zum Treppenhaus hinauf.
»Einer von uns und drei vom Staatsschutz«, antwortet der Polizeibeamte. »Man will möglichst schnell DNA sichern.«
»Sie werden keine finden«, sagt Joona eher zu sich selbst und steigt die Treppe hinauf.
Vor der Wohnungstür im dritten Stock steht Melker Janos, ein älterer Polizist. Er gehörte zu Joonas Ausbildern und ist ihm als gestresster und unangenehmer Vorgesetzter in Erinnerung geblieben. Damals war Melker dabei, Karriere zu machen, aber eine Scheidung und zeitweiliger Alkoholismus führten dazu, dass er wieder zum Streifenpolizisten degradiert wurde. Als er Joona sieht, grüßt er kurz und gereizt und öffnet ihm mit ironisch unterwürfiger Geste die Tür.
»Danke«, sagt Joona, ohne eine Antwort zu erwarten.
Direkt hinter der Tür steht Tommy Kofoed, der kriminaltechnische Koordinator der Landesmordkommission. Kofoed wirkt mürrisch in seiner gebückten Haltung. Er reicht Joona gerade einmal bis zur Brust. Als sich ihre Blicke begegnen, öffnet er den Mund zu einem fast kindlich fröhlichen Lächeln.
»Joona, schön dich zu sehen. Wolltest du nicht zur Polizeihochschule?«
»Hab mich verfahren.«
»Gut so.«
»Habt ihr was gefunden?«, fragt Joona.
»Wir haben alle Schuhabdrücke im Flur gesichert«, sagt er.
»Tja, die passen bestimmt zu meinen Schuhen«, sagt Joona und gibt ihm die Hand.
»Und zu denen des Angreifers«, erklärt Kofoed und lächelt noch breiter. »Wir haben mehrere hübsche Abdrücke sichern können. Er hat sich verdammt komisch bewegt – nicht wahr?«
»Ja«, antwortet Joona kurz.
Im Flur liegen Trittplatten auf dem Fußboden, damit keine Spuren kontaminiert werden, ehe sie gesichert worden sind. Auf einem Stativ steht eine Kamera, deren Objektiv auf den Fußboden gerichtet ist. Eine lichtstarke Lampe mit Aluminiumschirm liegt noch in einer Ecke. Die Kriminaltechniker haben mithilfe von Streiflicht, das fast parallel zum Boden fällt, nach unsichtbaren Schuhabdrücken gesucht. Danach haben sie die Schuhabdrücke elektrostatisch abgenommen und die Schritte des Täters von der Küche durch den Flur markiert.
Eigentlich ist dieses exakte Vorgehen überflüssig, denkt Joona. Schuhe, Handschuhe und Kleider des Täters sind aller Wahrscheinlichkeit nach bereits vernichtet, wahrscheinlich verbrannt worden.
»Wie ist er eigentlich gelaufen?«, fragt Kofoed und zeigt auf die Markierungen. Da, da … schräg rüber … und dann gibt es nichts mehr bis hier und hier.«
»Du hast einen Abdruck übersehen«, sagt Joona grinsend.
»Nie im Leben.«
»Da«, zeigt Joona.
»Wo?«
»Auf der Wand.«
»Das gibt’s doch nicht.«
Etwa siebzig Zentimeter über dem Fußboden erkennt man auf der Tapete einen schwachen Schuhabdruck. Tommy Kofoed ruft einen anderen Techniker hinzu und bittet ihn, einen Gelatineabdruck zu sichern.
»Kann man jetzt über den Boden gehen?«, erkundigt sich Joona.
»Solange du nicht über die Wände gehst«, antwortet Kofoed.
24
Der Gegenstand
In der Küche steht ein Mann in Jeans und hellbraunem Blazer mit Lederflicken an den Ellbogen. Er streicht sich über seinen blonden Schnurrbart, spricht laut und zeigt auf die Mikrowelle. Joona geht weiter und sieht, wie ein Techniker mit Mundschutz und Schutzhandschuhen die ausgebeulte Sprayflasche in eine Papiertüte verfrachtet, sie oben zweimal umklappt, zuklebt und anschließend beschriftet.
»Sie sind Joona Linna, stimmt’s?«, sagt der Mann mit dem blonden Schnurrbart. »Wenn Sie so gut sind, wie alle sagen, sollten Sie zu uns kommen.«
Sie geben sich die Hand.
»Göran Stone, Staatsschutz«, sagt der Mann selbstzufrieden.
»Sie leiten die Ermittlungen?«
»Ja, genau … offiziell übernimmt das allerdings Saga Bauer – aus statistischen Gründen«, sagt Stone grinsend.
»Ich bin Saga Bauer schon einmal begegnet«, sagt Joona. »Sie scheint mir sehr wohl fähig …«
»Nicht wahr?« Göran Stone lacht, verstummt dann abrupt.
Joona sieht aus dem Fenster, denkt an das Motorboot, das auf dem Meer treibend gefunden wurde, und versucht zu verstehen, wie der Auftrag des Mörders lautet, welche Person oder Personen er liquidieren soll. Es ist ihm bewusst, dass die Ermittlungen noch ganz am Anfang stehen und es zu früh ist, Schlussfolgerungen zu ziehen, aber trotzdem ist es immer gut, von hypothetischen Abläufen auszugehen.
Der einzige Mensch, auf den es der Täter höchstwahrscheinlich abgesehen hatte, war Penelope, denkt Joona. Und die Einzige, die er vermutlich nicht töten wollte, war Viola, weil er nicht vorhersehen konnte, dass sie auch auf der Jacht sein würde – ihre Anwesenheit war bloß ein unglücklicher Zufall, sagt Joona sich, verlässt die Küche und begibt sich ins Schlafzimmer.
Das Bett ist gemacht, die sahnefarbene Tagesdecke glatt. Saga Bauer vom Staatsschutz steht vor einem Notebook, das sie auf die Fensterbank gestellt hat, und telefoniert. Joona ist ihr bei einem Antiterror-Seminar begegnet.
Joona setzt sich aufs Bett und versucht, seine Gedanken erneut zu sammeln. Er stellt Viola und Penelope vor sich auf und platziert Björn neben ihnen. Sie können nicht alle an Bord gewesen sein, als Viola ermordet wurde, sagt er sich, denn dann hätte der Killer sich nicht geirrt. Wäre er auf offener See an Bord gegangen, hätte er alle drei ermordet, sie in die richtigen Betten verfrachtet und das Boot versenkt. Sein Irrtum schließt Penelopes Anwesenheit an Bord aus. Also müssen die drei irgendwo angelegt haben.
Joona steht wieder auf, verlässt das Schlafzimmer und geht ins Wohnzimmer. Er lässt den Blick über den Fernseher an der Wand, die Couch mit der roten Decke und den modernen Tisch mit Stapeln linksgerichteter Zeitschriften schweifen. Er geht zum Bücherregal, das eine ganze Wand einnimmt, bleibt stehen und denkt an das Boot und die Schäden an den Kabeln im Maschinenraum, die binnen weniger Minuten einen Lichtbogen hervorrufen sollten. An das Kissen, das entflammt werden sollte, an dieses Stück Schlauch, das zur Treibstoffpumpe führt und herausgezogen worden war. Aber die Jacht wurde nicht versenkt. Wahrscheinlich, weil der Motor nicht lange genug lief.
Das alles können keine Zufälle sein.
Björns Wohnung wird von einem Feuer verwüstet, am selben Tag wird Viola ermordet, und wenn sie das Boot nicht verlassen hätten, wäre der Treibstofftank explodiert.
Anschließend versucht der Mörder, in Penelopes Wohnung eine Gasexplosion herbeizuführen.