Björns Wohnung, das Motorboot, Penelopes Wohnung.
Er sucht nach etwas, das Björn und Penelope haben, denkt Joona. Als Erstes hat er Björns Wohnung durchsucht, und als er dort nicht fand, wonach er suchte, ließ er sie in Flammen aufgehen und verfolgte das Boot, und als er das Boot durchsucht und nicht gefunden hatte, wonach er suchte, versuchte er, Viola zum Sprechen zu bringen, und als er keine Antworten bekam, fuhr er zu Penelopes Wohnung.
Joona nimmt sich ein Paar Schutzhandschuhe aus einem Karton und stellt sich anschließend erneut vor das Bücherregal und betrachtet die dünne Staubschicht vor den Büchern. Ihm fällt auf, dass vor manchen Buchrücken kein Staub liegt, was bedeutet, dass jemand diese Bücher irgendwann in den letzten Wochen herausgezogen hat.
»Ich will dich hier nicht sehen«, meint Saga Bauer hinter ihm. »Das ist mein Fall.«
»Ich bin gleich wieder weg, ich muss nur etwas finden«, antwortet Joona gedämpft.
»Fünf Minuten«, sagt sie.
Er dreht sich um.
»Könnt ihr die Bücher fotografieren?«
»Schon erledigt«, antwortet sie kurz.
»Schräg von oben, damit man den Staub sieht«, sagt er ungerührt.
Sie begreift, was er meint, verzieht keine Miene, nimmt einem Techniker die Kamera ab, tritt näher und fotografiert alle Regalebenen, an die sie herankommt, und erklärt anschließend, dass er sich die Bücher in den fünf unteren Regalreihen ansehen kann.
Joona zieht »Das Kapital« von Marx heraus und blättert darin. Das Buch ist voller Unterstreichungen und Randnotizen. Er schaut in die Lücke in der Bücherreihe, kann aber nichts entdecken. Er stellt das Buch zurück. Sein Blick wandert über eine Biografie Ulrike Meinhofs, eine zerlesene Anthologie mit dem Titel »Frauenpolitische Schlüsseltexte« und Bertolt Brechts gesammelte Werke.
In der zweiten Reihe von unten entdeckt er auf einmal drei Bücher, die offensichtlich erst kürzlich aus dem Bücherregal gezogen worden sind.
Vor ihnen liegt kein Staub.
»Die List der Antilopen, Augenzeugenberichte vom Völkermord in Ruanda«. Pablo Nerudas Gedichtsammlung »Cien sonetos de amor« und »Die ideengeschichtlichen Wurzeln der schwedischen Rassenbiologie«.
Joona blättert eins nach dem anderen durch und als er »Die ideengeschichtlichen Wurzeln der schwedischen Rassenbiologie« öffnet, fällt ein Foto heraus. Er hebt es vom Fußboden auf. Es ist eine Schwarzweißaufnahme eines ernsten Mädchens mit fest geflochtenen Haaren. Er erkennt augenblicklich Claudia Fernandez. Sie kann nicht älter als fünfzehn sein und sieht ihren Töchtern zum Verwechseln ähnlich.
Aber wer würde eine Fotografie seiner Mutter in ein Buch über Rassenbiologie legen, denkt er und dreht das Bild um.
Auf der Rückseite der Aufnahme hat jemand mit Bleistift notiert: »No estés lejos de mí un solo día.«
Zweifellos eine Zeile aus einem Gedicht: Sei nicht weit von mir, nicht einen einzigen Tag.
Joona zieht noch einmal Nerudas Gedichtsammlung aus dem Regal, blättert und findet schnell die Strophe: »No estés lejos de mí un solo día, porque cómo, porque, no sé decirlo, es largo el día, y te estaré esperando como en las estaciones cuando en alguna parte se durmieron los trenes.«
Hier hat die Fotografie gelegen, in Nerudas Buch.
Das ist die richtige Stelle, denkt er.
Wenn der Mörder in diesen Büchern nach etwas gesucht hat, könnte das Bild dabei herausgefallen sein. Er hat hier gestanden, überlegt Joona, und sich genau wie ich den Staub auf den Regalbrettern angesehen und flüchtig die Bücher duchgeblättert, die in den letzten Wochen herausgenommen worden sind. Da entdeckt der Mörder, dass eine Fotografie herausgefallen ist und auf dem Boden liegt, und legt sie zurück, aber in das falsche Buch.
Joona schließt die Augen.
So muss es gewesen sein, denkt er.
Der Killer hat die Bücher durchsucht.
Wenn er weiß, wonach er sucht, heißt das, der Gegenstand findet Platz zwischen den Seiten eines Buchs.
Worum könnte es sich folglich handeln?
Ein Brief oder ein Testament, ein Foto, ein Geständnis. Vielleicht auch eine CD oder DVD, eine Speicherkarte oder eine SIM-Karte.
25
Das Kind auf der Treppe
Joona verlässt das Wohnzimmer und wirft einen Blick ins Badezimmer, das gerade detailliert fotografiert wird. Er geht durch den Flur und tritt durch die Wohnungstür ins Treppenhaus, wo er vor dem engmaschigen Gitter des Aufzugs stehen bleibt.
Auf der Wohnungstür neben dem Aufzug steht »Nilsson«. Er klopft an und wartet. Kurz darauf hört man hinter der Tür Schritte. Eine rundliche Frau Anfang sechzig öffnet einen Spaltbreit und schaut hinaus.
»Ja, bitte?«
»Guten Tag, ich heiße Joona Linna, ich bin Kriminalkommissar und …«
»Aber ich habe doch schon gesagt, dass ich sein Gesicht nicht gesehen habe«, unterbricht sie ihn.
»Ist die Polizei schon bei Ihnen gewesen? Das wusste ich nicht.«
Sie öffnet die Tür, und zwei Katzen, die auf dem Telefontischchen gelegen haben, springen auf den Boden und verschwinden in der Wohnung.
»Er hatte eine Draculamaske auf«, sagt die Frau ungeduldig, als hätte sie das bereits unzählige Male erklärt.
»Wer?«
»Wer«, murrt sie und geht zurück in die Wohnung.
Nach einer Weile kehrt sie mit einem vergilbten Zeitungsausschnitt zurück. Joona überfliegt den zwanzig Jahre alten Artikel über einen Exhibitionisten, der sich damals als Dracula verkleidete und im Stadtteil Södermalm Frauen unsittlich berührte.
»Unten herum war er splitterfasernackt …«
»Aber ich dachte eigentlich …«
»Nicht, dass ich hingesehen hätte«, fährt die Frau fort. »Aber das habe ich euch doch alles schon erzählt.«
Joona sieht sie an und lächelt.
»Eigentlich wollte ich Sie nach etwas ganz anderem fragen.«
Die Frau reißt die Augen auf:
»Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?«
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie Penelope Fernandez kennen, Ihre Nachbarin, die …«
»Sie ist wie ein Enkelkind für mich«, unterbricht ihn die Frau. »So wunderbar, so nett, so süß und …«
Sie verstummt jäh und fragt dann leise:
»Ist sie tot?«
»Warum fragen Sie das?«
»Weil die Polizei herkommt und unangenehme Fragen stellt«, erwidert sie.
»Ich würde gerne wissen, ob sie in den letzten Tagen ungewöhnlichen Besuch bekommen hat.«
»Nur weil ich alt bin, schnüffele ich noch lange nicht anderen Leuten hinterher und führe Buch über ihr Privatleben.«
»Natürlich nicht, ich dachte nur, Sie hätten vielleicht rein zufällig etwas gesehen.«
»Das habe ich aber nicht.«
»Ist vielleicht irgendetwas anderes Ungewöhnliches vorgefallen?«
»Ganz und gar nicht. Das Mädchen ist gepflegt und fleißig.«
Joona bedankt sich für das Gespräch, teilt ihr mit, dass er möglicherweise noch einmal mit weiteren Fragen vorbeischauen wird, und tritt wieder nach draußen, damit die Frau ihre Tür schließen kann.
In der dritten Etage gibt es keine weiteren Wohnungen. Er steigt die Stufen weiter hinauf. Auf halber Treppe sieht er ein Kind sitzen. Es scheint ein Junge von etwa acht Jahren zu sein, mit kurzen Haaren, in einer Jeans und einem fadenscheinigen Helly-Hansen-Pullover. Auf seinem Schoß liegt eine Plastiktüte, darin eine Mineralwasserflasche mit abgeschabtem Etikett und ein halbes Baguette.
Joona bleibt vor dem Kind stehen, das ihn scheu ansieht.
»Hallo«, sagt er. »Wie heißt du?«
»Mia.«
»Ich heiße Joona.«
Ihm fällt auf, dass der schlanke Hals des Mädchens unter dem Kinn ganz schmutzig ist.
»Hast du eine Pistole?«, fragt sie.
»Warum fragt du mich das?«
»Du hast Ella gesagt, dass du Polizist bist.«
»Das stimmt – ich bin Kommissar.«
»Hast du eine Pistole?«
»Ja, habe ich«, antwortet Joona. »Möchtest du mal schießen?«
Das Kind sieht ihn verblüfft an.
»Das soll ein Witz sein, oder?«