»Ja«, gesteht Joona lächelnd.
Das Mädchen lacht.
»Warum sitzt du hier auf der Treppe?«
»Es macht mir Spaß, man hört Sachen.«
Joona setzt sich neben das Kind.
»Und was hast du gehört?«
»Jetzt gerade habe ich gehört, dass du Polizist bist und Ella dich angelogen hat.«
»Was war denn gelogen?«
»Dass sie Penelope mag«, antwortet Mia.
»Tut sie das nicht?«
»Ella kippt ihr immer Katzendreck in den Briefschlitz.«
»Warum tut sie das?«
Das Kind zuckt mit den Schultern und fingert an seiner Tüte herum.
»Keine Ahnung.«
»Was hältst du denn von Penelope?«
»Sie sagt immer ›Hallo‹.«
»Aber du kennst sie nicht weiter?«
»Nein.«
Joona schaut sich um.
»Wohnst du hier auf der Treppe?«
Das Mädchen unterdrückt ein Lächeln.
»Nein, ich wohne mit meiner Mama im ersten Stock.«
»Aber du bist oft im Treppenhaus.«
Mia zuckt mit den Schultern.
»Meistens.«
»Schläfst du hier?«
Das Mädchen zupft am Etikett der Wasserflasche.
»Manchmal.«
»Letzten Freitag«, sagt Joona, »hat Penelope am frühen Morgen ihre Wohnung verlassen. Sie hat ein Taxi genommen.«
»Das war totales Pech«, erwidert das Mädchen sofort. »Sie hat Björn nur um ein paar Sekunden verpasst; als er gekommen ist, war sie gerade weg. Ich hab ihm gesagt, dass sie weggefahren ist.«
»Und was hat er gesagt?«
»Das wäre nicht weiter schlimm, er wollte nur was holen.«
»Er wollte was holen?«
Mia nickt.
»Ich leih mir immer sein Handy und spiele ein paar Spiele, aber diesmal hatte er keine Zeit, er ist nur ganz kurz in die Wohnung gegangen, hat die Tür hinter sich abgeschlossen und ist die Treppen runtergelaufen.«
»Hast du gesehen, was er geholt hat?«
»Nein.«
»Was ist danach passiert?«
»Nichts, um Viertel vor neun bin ich in die Schule gegangen.«
»Und nach der Schule, am Abend. Ist da was passiert?«
Mia zuckt mit den Schultern.
»Mama war nicht da, also bin ich zu Hause geblieben, hab Makkaroni gegessen und ferngesehen.«
»Gestern?«
»Da war sie auch weg, also war ich zu Hause.«
»Du hast nicht gesehen, wer gekommen und gegangen ist?«
»Nein.«
Joona zieht eine Visitenkarte heraus und notiert eine Telefonnummer darauf.
»Schau mal, Mia«, sagt er. »Das hier sind zwei richtig gute Telefonnummern. Die eine ist meine eigene.«
Er zeigt ihr die aufgedruckte Rufnummer auf der Karte mit dem Polizeiemblem.
»Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst, wenn jemand gemein zu dir ist. Und die zweite Nummer, die ich hier aufgeschrieben habe, 0200 – 230 230 ist die Nummer des Kinderhilfstelefons. Da kannst du immer anrufen, wenn dir danach ist, und über alles reden.«
»Okay«, flüstert Mia und nimmt die Visitenkarte.
»Wirf die Karte nicht weg, wenn ich gegangen bin«, ermahnt Joona sie. »Denn auch wenn du jetzt nicht anrufen willst, möchtest du es vielleicht ein anderes Mal.«
»Björn hat die Hand so gehalten, als er gegangen ist«, sagt Mia und legt eine Hand auf den Bauch.
»Als hätte er Schmerzen?«
»Ja.«
26
Eine Handfläche
Joona klopft auch an die anderen Türen im Haus, erfährt aber nur, dass Penelope eine recht unauffällige, fast scheue Nachbarin ist, die sich an den alljährlichen Putztagen beteiligt und an der Eigentümerversammlung teilnimmt, aber nicht mehr. Als er fertig ist, geht er langsam die Treppe zur dritten Etage hinunter.
Die Tür zu Penelopes Wohnung steht offen. Ein Kriminaltechniker des Staatsschutzes hat das Wohnungsschloss demontiert und den Kolben in eine Plastiktüte gelegt.
Joona geht hinein, hält sich im Hintergrund und verfolgt die forensische Untersuchung. Es hat ihm immer gefallen, bei der Arbeit der Kriminaltechniker dabei zu sein, zu sehen, wie sie systematisch alles fotografieren, jede Spur sichern und sorgsam über jedes Stadium Protokoll führen. Die fortschreitende Untersuchung eines Tatorts ist ein Werk der Zerstörung. Im Laufe der Zeit wird er Schicht für Schicht kontaminiert und auseinandergenommen. Es gilt, den Tatort in der richtigen Reihenfolge zu zerstören, damit keine Beweise oder Anhaltspunkte verloren gehen.
Joona lässt den Blick über Penelope Fernandez’ gepflegte Wohnung schweifen. Was hat Björn Almskog hier gemacht? Er kam, als Penelope gegangen war. Das wirkt fast so, als hätte er sich vor ihrem Hauseingang versteckt und darauf gewartet, dass sie fahren würde. Vielleicht war es wirklich nur ein Zufall, aber es ist ebenso gut möglich, dass er sie nicht treffen wollte.
Björn eilte ins Haus, begegnete dem Kind auf der Treppe, hatte keine Zeit, mit dem Mädchen zu reden, sagte ihr, dass er nur etwas holen wolle, und blieb nur wenige Minuten in der Wohnung.
Vermutlich hat er etwas geholt, wie er es dem Mädchen gesagt hat. Vielleicht hatte er den Bootsschlüssel oder etwas anderes vergessen, was man in die Tasche stecken kann.
Vielleicht hat er es aber auch dagelassen. Vielleicht musste er nur einen Blick auf etwas werfen, eine Information überprüfen, eine Telefonnummer heraussuchen.
Joona geht in die Küche und schaut sich um.
»Habt ihr den Kühlschrank durchsucht?«
Ein junger Mann mit Kinnbart sieht ihn an:
»Hast du Hunger?«, fragt er in einem breiten Dalarna-Dialekt.
»Es ist ein guter Ort, um Sachen zu verstecken«, antwortet Joona.
»So weit sind wir noch nicht gekommen«, erwidert der Mann.
Joona kehrt ins Wohnzimmer zurück und sieht, dass Saga in einer Ecke des Raums immer noch in ein Diktiergerät spricht.
Tommy Kofoed montiert einen Klebestreifen mit gesicherten Fasern auf OH-Film und blickt auf.
»Irgendetwas Ungewöhnliches?«, erkundigt sich Joona.
»Ungewöhnlich? Na ja, ein Schuhabdruck auf der Wand …«
»Sonst nichts?«
»Was wichtig ist, zeigt sich meistens erst im Labor in Linköping.«
»Haben wir in einer Woche einen Bericht?«, fragt Joona.
»Wenn wir denen wie der Leibhaftige auf die Pelle rücken«, antwortet Kofoed und zuckt mit den Schultern. »Ich will mir als Nächstes die Leiste ansehen, die von dem Messer getroffen wurde, und einen Abguss von der Klinge machen.«
»Lass es«, murmelt Joona.
Kofoed hält dies für einen Witz und lacht, wird dann aber ernst.
»Hast du das Messer gesehen – war es aus Stahl?«
»Nein, die Klinge war heller, vielleicht gesintertes Wolframcarbid, wie es manche bevorzugen. Aber das wird uns nicht weiterbringen.«
»Was?«
»Die Tatortuntersuchung«, antwortet Joona. »Wir werden weder DNA noch irgendwelche Fingerabdrücke finden, die uns dem Täter näherbringen.«
»Und was sollen wir dann tun?«
»Ich glaube, dass der Mann hergekommen ist, um nach etwas zu suchen, und ich glaube, dass er gestört wurde, ehe er es finden konnte.«
»Du meinst, das, wonach er gesucht hat, ist noch hier?«
»Gut möglich«, antwortet Joona.
»Aber du hast keine Ahnung, was es ist?«
»Es findet Platz in einem Buch.«
Joonas granitgraue Augen begegnen für einen kurzen Moment Kofoeds braunen Augen. Göran Stone vom Staatsschutz fotografiert die Tür zum Badezimmer, beide Seiten, den Türrahmen, die Scharniere. Anschließend setzt er sich auf den Fußboden, um die weiße Badezimmerdecke zu fotografieren. Joona will gerade die Wohnzimmertür öffnen, um ihn zu bitten, einige Bilder von den Zeitschriften auf dem Couchtisch zu machen, als das grelle Licht eines Kamerablitzes ihn blendet. Joona muss stehen bleiben, ihm ist schwarz vor Augen. Vier weiße Punkte gleiten durch sein Blickfeld, gefolgt von einer ölig schimmernden hellblauen Handfläche. Joona sieht sich um, ohne zu erkennen, woher die Hand gekommen ist.
»Göran«, ruft er mit lauter Stimme durch die Glastür zum Flur. »Mach das noch mal!«
Alle in der Wohnung halten inne. Der Kriminaltechniker aus Dalarna lugt aus der Küche heraus, der Mann an der Wohnungstür sieht Joona interessiert an. Tommy Kofoed nimmt seine Schutzmaske herunter und kratzt sich am Hals. Göran Stone bleibt mit fragender Miene auf dem Boden sitzen.