Ihre Schwester Viola steht von dem pinkfarbenen Liegestuhl auf dem Achterdeck auf. Die letzte Stunde hat sie dort mit Björns Cowboyhut und einer riesigen spiegelnden Sonnenbrille gelegen und mit schläfrigen Bewegungen einen Joint geraucht.
Viola unternimmt fünf schlaffe Versuche, mit den Zehen die Streichholzschachtel vom Deck aufzuheben, ehe sie schließlich aufgibt. Penelope kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Viola betritt durch die Glastür den Salon und fragt, ob sie übernehmen soll.
»Ansonsten gehe ich nämlich runter und mixe mir eine Margarita«, sagt sie und steigt weiter die Treppe hinab.
Auf dem Vordeck liegt Björn mit der Taschenbuchausgabe von Ovids Metamorphosen als Kopfkissen auf einem Badetuch.
Penelope sieht, dass das Geländer vor seinen Füßen an der Verankerung rostet. Björn hat das Boot zum zwanzigsten Geburtstag von seinem Vater geschenkt bekommen, jedoch nie das nötige Geld gehabt, es instand zu halten. Außer einer Reise ist dieses große Motorboot das einzige Geschenk gewesen, das er jemals von seinem Vater bekommen hat. Als der Vater seinen fünfzigsten Geburtstag feierte, lud er Björn und Penelope in eines seiner nobelsten Luxushotels ein, das Kamaya Resort an der kenianischen Ostküste. Penelope hielt es dort ganze zwei Tage aus, dann reiste sie zum Flüchtlingslager Kubbum in Darfur im südlichen Sudan, wo die französische Hilfsorganisation Action Contre la Faim stationiert war.
Als sie sich der Skurusundsbrücke nähern, senkt Penelope die Geschwindigkeit von acht auf fünf Knoten. Von dem dichten Verkehr hoch über ihnen ist nichts zu hören. Sie gleiten in das schattige Wasser unter der Brücke, als ihr ein schwarzes Schlauchboot neben dem Brückenpfeiler auffällt. Es ist ein Modell, das auch von den Küstenjägern des Militärs benutzt wird. Ein RIB mit einem Rumpf aus Glasfiber und sehr leistungsstarken Motoren.
Penelope hat die Brücke fast hinter sich gelassen, als sie entdeckt, dass in dem Boot jemand sitzt. Mit dem Rücken zu ihr hockt im Zwielicht ein Mann. Sie weiß nicht, warum ihr Herz bei seinem Anblick plötzlich schneller schlägt. Es hat etwas mit seinem Nacken und den schwarzen Kleidern zu tun. Obwohl er von ihr abgewandt sitzt, fühlt sie sich von ihm beobachtet.
Während sie wieder in den Sonnenschein hinausfährt, läuft ihr ein Schauer über den ganzen Körper, und die Gänsehaut auf ihren Armen verschwindet erst wieder nach längerer Zeit.
Als sie Duvnäs hinter sich gelassen haben, beschleunigt sie auf fünfzehn Knoten. Die beiden Motoren grollen, das Wasser schäumt hinter ihnen auf und das Boot schießt über die glatte Wasserfläche.
Penelopes Handy klingelt. Sie sieht, dass es die Nummer ihrer Mutter ist. Vielleicht hat sie die Diskussion im Fernsehen gesehen. Einen Moment lang denkt Penelope, dass ihre Mutter anruft, um ihr zu sagen, wie kompetent sie gewirkt hat, weiß aber genau, dass das nur Wunschdenken ist.
»Hallo, Mama.«
»Au«, flüstert ihre Mutter.
»Was ist?«
»Mein Rücken … ich muss unbedingt zum Naprapathen«, sagt Claudia Fernandez, und man hört ein Geräusch, als fülle sie ein Glas mit Leitungswasser. »Ich wollte nur kurz hören, ob Viola mit dir gesprochen hat.«
»Sie ist bei uns auf dem Boot.« Penelope hört ihre Mutter trinken.
»Sie ist bei euch, wie schön … Ich hatte mir überlegt, dass ihr das vielleicht guttun würde.«
»Es wird ihr bestimmt guttun.«
»Was werdet ihr essen?«
»Heute Abend gibt es marinierte Heringe, Kartoffeln, Eier …«
»Sie mag keinen Hering.«
»Mama, Viola hat mich erst vor …«
»Ich weiß, du hast nicht damit gerechnet, dass sie mitkommt«, unterbricht Claudia Fernandez sie. »Deshalb frage ich ja.«
»Ich habe auch noch Fleischbällchen gemacht«, erklärt Penelope geduldig.
»Genug für alle?«, fragt ihre Mutter.
»Genug? Kommt ganz darauf an …«
Sie unterbricht sich und starrt auf das glitzernde Wasser hinaus.
»Ich kann auf meine Portion verzichten«, fährt sie schließlich fort.
»Natürlich nur, wenn es nicht genug sein sollte«, erwidert ihre Mutter.
»Das habe ich schon verstanden«, sagt Penelope leise.
»Muss ich deswegen jetzt Mitleid mit dir haben?«, fragt ihre Mutter mit unterdrücktem Ärger in der Stimme.
»Es ist nur … Viola ist nun wirklich erwachsen und …«
»Jetzt enttäuschst du mich aber.«
»Das tut mir leid.«
»Du isst regelmäßig meine Fleischbällchen zu Weihnachten und an Mittsommer und …«
»Das muss ich nicht«, sagt Penelope schnell.
»Schön«, bemerkt ihre Mutter kurz. »Dann lass es eben.«
»Ich wollte damit nur sagen, dass …«
»Du kommst an Mittsommer nicht zu mir«, unterbricht ihre Mutter sie wütend.
»Aber Mutter, warum musst du nur …«
Es klickt, als ihre Mutter auflegt. Penelope verstummt augenblicklich, ist frustriert, sieht das Handy an und schaltet es aus.
Die Jacht fährt langsam über das grüne Spiegelbild grünender Hügel. Die Treppe zur Pantry knarrt, und kurz darauf schwankt Viola mit dem Margaritaglas in der Hand zu Penelope herauf.
»War das Mama?«
»Ja.«
»Hat sie Angst, dass ich nichts zu essen bekomme?«, fragt Viola lächelnd.
»Es gibt etwas zu essen«, antwortet Penelope.
»Mama glaubt, dass ich nicht alleine klarkomme.«
»Sie macht sich nur Sorgen«, erwidert Penelope.
»Um dich macht sie sich nie Sorgen«, sagt Viola.
»Ich komme zurecht.«
Viola nippt an ihrem Drink und schaut zum Fenster hinaus.
»Ich habe die Diskussion im Fernsehen gesehen«, sagt sie.
»Heute Morgen? Mit Pontus Salman?«
»Nein, das war … letzte Woche«, sagt sie. »Du hast mit so einem arroganten Mann gesprochen, der … er hatte einen schönen Namen und …«
»Palmcrona«, sagt Penelope.
»Ja genau, Palmcrona …«
»Ich bin wütend geworden, rot angelaufen und hatte Tränen in den Augen, wollte Bob Dylans Masters of War zitieren oder einfach nur weglaufen und die Tür hinter mir zuschlagen.«
Viola sieht aufmerksam hin, als Penelope sich streckt und das Dachfenster öffnet.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du dich unter den Armen rasierst«, sagt sie leichthin.
»Nein, aber ich bin so oft in den Medien, dass …«
»Die Eitelkeit zugeschlagen hat«, scherzt Viola.
»Ich will nicht bloß wegen ein paar Haaren unter den Armen als rechthaberisch abgetan werden.«
»Und wie sieht es mit der Bikinilinie aus?«
»Geht so …«
Penelope hebt den Sarong an, und Viola lacht schallend.
»Björn gefällt es«, erklärt Penelope.
»Mit seinen Dreads kann er ja wohl auch kaum etwas anderes sagen.«
»Aber du rasierst dich natürlich überall, wie sich das gehört«, erwidert Penelope mit schneidender Stimme. »Für deine verheirateten Typen und Idioten mit Muskelpaketen und …«
»Ich weiß, dass ich bei Männern einen schlechten Geschmack habe«, unterbricht Viola sie.
»Den hast du doch sonst nicht.«
»Mag sein, aber ich habe nie etwas richtig durchgezogen.«
»Du bräuchtest bloß deinen Notenschnitt verbessern und …«
Viola zuckt mit den Schultern.
»Ehrlich gesagt habe ich die Hochschulprüfung mitgeschrieben.«
Sie durchpflügen sanft das klare Wasser, in großer Höhe folgen Möwen dem Boot.
»Und wie ist es gelaufen?«
»Ich fand sie einfach«, meint Viola und leckt Salz vom Rand ihres Glases.
»Dann ist es also gut gelaufen.«
Viola nickt und stellt das Glas ab.
»Wie gut?«, fragt Penelope und versetzt ihr einen Stoß in die Seite.
»Volle Punktzahl«, antwortet Viola mit gesenktem Blick.
Penelope schreit vor Freude auf und umarmt ihre Schwester fest.
»Begreifst du eigentlich, was das heißt?«, ruft Penelope aufgeregt. »Du kannst jeden Studiengang belegen, den du willst, und dir die Universität aussuchen, du musst nur noch entscheiden, ob du Wirtschaft, Medizin oder Journalistik studieren willst.«
Die Schwestern lachen mit geröteten Wangen, und Penelope umarmt Viola noch einmal so schwungvoll, dass diese ihren Hut verliert. Penelope streicht ihrer Schwester über den Kopf und ordnet ihre Frisur, wie sie es schon seit der Kindheit getan hat, sie nimmt die Spange mit der Friedenstaube aus ihrem Haar und steckt sie in die Locken ihrer Schwester, mustert sie und lächelt zufrieden.