Zwei Minuten später springen fünfzehn schwer bewaffnete Beamte des Staatsschutzes aus vier schwarzen Transportern. Die Einsatztruppe dringt durch sämtliche Eingänge ein, und in den Räumen verbreitet sich Tränengas. Sie finden fünf junge Leute vor, darunter auch Daniel Marklund, der auf dem Boden sitzt und die Hände über den Kopf erhoben hat. Sie werden hustend auf die Straße gebracht, ihre Arme sind hinter dem Rücken mit Plastikschnüren gefesselt.
Die beschlagnahmten Waffen belegen im Grunde vor allem das bescheidene militärische Niveau der Brigade. Eine alte Militärpistole der Marke Colt, ein Kleinkalibergewehr, eine krumme Schrotflinte, ein Karton Flintenlaufgeschosse, vier Messer und zwei Wurfsterne.
Während Joona am südlichen Mälarufer entlangfährt, nimmt er sein Handy und wählt die Nummer seines Chefs. Zwei Ruftöne später meldet sich Carlos, mit einem Stift hält er den Lautsprecherknopf gedrückt.
»Wie gefällt es dir da draußen in der Polizeihochschule, Joona?«
»Da bin ich nicht.«
»Das weiß ich, weil …«
»Penelope Fernandez lebt«, unterbricht Joona ihn. »Sie wird verfolgt und ist auf der Flucht. Sie versucht, ihr Leben zu retten.«
»Wer sagt das?«
»Sie hat eine Nachricht auf dem AB ihrer Mutter hinterlassen.«
Es wird still am Telefon, dann holt Carlos tief Luft.
»Okay, sie lebt, schön … Was wissen wir noch? Sie lebt, aber …«
»Wir wissen, dass sie vor dreißig Stunden lebte, als sie angerufen hat«, sagt Joona. »Und dass irgendjemand sie verfolgt.«
»Wer verfolgt sie?«
»Sie ist nicht mehr dazu gekommen, es zu sagen, aber wenn es der Mann ist, dem ich begegnet bin, bleibt uns nicht viel Zeit.«
»Du glaubst, dass es sich um einen Profi handelt?«
»Ich bin mir sicher, dass die Person, die Erixon und mich angegriffen hat, ein Profikiller, ein Grob, ist.«
»Ein Grob?«
»Das serbische Wort für Grab. Diese Leute sind teuer, arbeiten immer allein, tun aber alles, wofür man sie bezahlt.«
»Das klingt ziemlich unwahrscheinlich.«
»Ich habe recht.«
»Das sagst du immer. Aber wenn es sich wirklich um einen Auftragsmörder handeln würde, hätte Penelope nicht so lange durchhalten können … Es sind fast achtundvierzig Stunden vergangen.«
»Wenn sie noch lebt, dann nur, weil dem Killer andere Dinge wichtiger gewesen sind.«
»Du glaubst nach wie vor, dass er nach etwas sucht?«
»Ja«, antwortet Joona.
»Wonach?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte ein Foto sein …«
»Wie kommst du darauf?«
»Es ist die beste Theorie, die ich im Moment habe …«
Joona berichtet kurz von den Büchern, die aus dem Bücherregal genommen wurden, dem Bild mit den Gedichtzeilen, Björns kurzem Besuch, der Hand auf dem Bauch, dem Abdruck auf der Glastür, den Klebestreifenresten und der Ecke eines Fotos.
»Du glaubst, dass der Mörder nach dem Foto gesucht hat, das Björn schon geholt hatte?«
»Ich denke, dass er zuerst Björns Wohnung durchsucht hat, und als er das, wonach er suchte, dort nicht finden konnte, hat er Benzin verschüttet und das Bügeleisen der Nachbarin auf die höchste Stufe gestellt. Die Feuerwehr wurde um 10.05 alarmiert, und ehe sie das Feuer unter Kontrolle bringen konnte, war die ganze Etage ausgebrannt.«
»Am selben Abend ermordet er Viola.«
»Vermutlich ging er davon aus, dass Björn die Aufnahme mitgenommen hatte, also spürte er die Jacht auf, ging an Bord, ertränkte Viola, durchsuchte das Boot und wollte es versenken, als ihn irgendetwas veranlasste, seine Pläne zu ändern und die Schären zu verlassen, nach Stockholm zurückzukehren und Penelopes Wohnung zu durchsuchen …«
»Aber du glaubst nicht, dass er das Foto gefunden hat?«
»Entweder trägt Björn es bei sich, oder er hat es bei einem Freund oder in einem Schließfach oder Gott weiß wo versteckt.«
Es wird still. Joona hört Carlos’ schwere Atemzüge.
»Aber wenn wir die Aufnahme zuerst finden«, sagt Carlos nachdenklich. »Dann ist das Ganze wahrscheinlich vorbei.«
»Ja«, antwortet Joona.
»Denn ich meine … wenn wir das Bild gesehen haben, wenn die Polizei es gesehen hat, ist es kein Geheimnis mehr und somit nichts mehr, wofür man töten würde.«
»Hoffen wir, dass es so einfach ist.«
»Joona, ich … ich kann Petter diesen Fall nicht abnehmen, aber ich gehe davon aus …«
»Dass ich zur Polizeihochschule fahre und dort Vorlesungen halte«, unterbricht Joona ihn.
»Das ist alles, was ich wissen muss.« Carlos lacht.
Auf dem Rückweg in den Stadtteil Kungsholmen in der Innenstadt hört Joona seine Mailbox ab. Erixon hat einige Nachrichten hinterlassen. In der ersten erklärt der Kriminaltechniker ruhig, dass er durchaus in der Lage ist, vom Krankenhaus aus zu arbeiten, dreizehn Minuten danach fordert er, wieder mitarbeiten zu dürfen, und weitere siebenundzwanzig Minuten später schreit er, es mache ihn wahnsinnig, nichts zu tun zu haben. Joona ruft ihn an, es klingelt zwei Mal, dann hört er Erixon mit müder Stimme murmeln:
»Quak …«
»Komme ich zu spät?«, fragt Joona. »Bist du schon verrückt geworden?«
Erixon antwortet nur mit einem Hicksen.
»Ich habe keine Ahnung, wie viel du weißt«, sagt Joona, »aber wir müssen schnell weiterkommen. Gestern Morgen hat Penelope Fernandez eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter ihrer Mutter hinterlassen.«
»Gestern?«, wiederholt Erixon hellwach.
»Sie hat gesagt, dass sie verfolgt wird.«
»Bist du auf dem Weg hierher?«, erkundigt sich Erixon.
Joona hört Erixon durch die Nase atmen, während er ihm erzählt, dass Penelope und Björn die Nacht zum Freitag nicht gemeinsam verbracht haben. Sie wurde um 6.40 Uhr von einem Taxi abgeholt und zum Fernsehsender gebracht, wo sie an einer Diskussion teilnehmen sollte. Nur eine Minute nachdem das Taxi die Sankt Paulsgatan verlassen hatte, betrat Björn die Wohnung. Joona erzählt Erixon von dem Handabdruck auf der Glastür, den Klebestreifen und der abgerissenen Ecke und erklärt, er jedenfalls sei davon überzeugt, dass Björn Almskog Penelopes Abfahrt abgewartet habe, um anschließend ohne ihr Wissen schnellstmöglich die Fotografie holen zu können.
»Außerdem glaube ich, dass der Mann, der uns angegriffen hat, ein Profikiller ist, der nach diesem Foto gesucht hat, als er von uns überrascht wurde«, fährt Joona fort.
»Das klingt plausibel«, flüstert Erixon.
»Er wollte nur aus der Wohnung entkommen und hat es nicht darauf angelegt, uns zu töten«, sagt Joona.
»Denn sonst wären wir jetzt tot«, führt Erixon Joonas Gedankengang fort.
Es knistert im Telefon, und Erixon bittet jemanden, ihn in Ruhe zu lassen. Joona hört eine Frau wiederholen, es sei Zeit für die Krankengymnastik, und Erixon fauchen, es handele sich um ein Privatgespräch.
»Jedenfalls können wir annehmen, dass der Killer das Foto nicht gefunden hat«, fährt Joona fort. »Denn wenn er es auf dem Boot gefunden hätte, wäre es nicht mehr nötig gewesen, in Penelopes Wohnung zu suchen.«
»Und bei ihr zu Hause war es nicht, weil Björn es schon geholt hatte.«
»Ich glaube, der Versuch, eine Explosion mit einem nachfolgenden Wohnungsbrand auszulösen, zeigt uns, dass der Täter nicht unbedingt in den Besitz des Fotos kommen will, es würde ihm schon reichen, es zu zerstören.«
»Aber warum hing es bei Penelope Fernandez an der Wohnzimmertür, wenn es so verdammt wichtig war?«
»Dafür könnte ich mir einige Gründe vorstellen«, antwortet Joona. »Am wahrscheinlichsten dürfte sein, dass Björn und Penelope ein Foto geschossen haben, das irgendetwas beweist, sie selber es aber nicht verstehen.«
»So muss es sein«, sagt Erixon eifrig.
»Für sie ist die Aufnahme nichts, was man lieber verstecken sollte, ganz harmlos und nichts, wofür man jemanden ermorden würde.«
»Aber plötzlich überlegt Björn es sich anders.«
»Vielleicht hat er etwas herausgefunden, begreift womöglich, dass es gefährlich ist, und nimmt es deshalb an sich«, überlegt Joona. »Es gibt vieles, was wir nicht wissen, und der einzige Weg, Antworten zu finden, führt wohl über gute alte, ehrenwerte Polizeiarbeit.«