Axel hat keine Ahnung, was er darauf antworten soll, und sagt deshalb nur, dass er ihr eine Tüte Chips und eine große Flasche Fanta gekauft hat.
Sie scheint ihn nicht einmal zu hören. Er versucht, ihr Gesicht zu deuten. Zu erkennen, ob sie im Begriff ist, rastlos oder deprimiert oder verschlossen zu werden.
»Meinst du immer noch, dass wir heiraten sollen?«, fragt sie.
»Ja«, lügt er.
»Es ist nur so, dass ich bei Blumen immer an Mamas Beerdigung und an Papas Gesicht denken muss, als …«
»Wir brauchen keine Blumen«, sagt er.
»Obwohl, Maiglöckchen mag ich.«
»Ich auch«, sagt er mit schwacher Stimme.
Sie errötet zufrieden, und er hört, dass sie ihm zuliebe so tut, als müsste sie gähnen.
»Ich bin müde«, sagt sie und verlässt das Zimmer. »Möchtest du schlafen?«
»Nein«, sagt Axel Riessen zu sich selbst, steht dann jedoch auf und folgt ihr.
Erfüllt von dem intensiven Gefühl, dass Teile seines Körpers ihn aufzuhalten versuchen, geht er durch die Zimmer. Er fühlt sich plump und eigenartig langsam, als er ihr durch den Korridor, über den Marmorfußboden und die Treppe hinauf, durch zwei Salons in die Zimmersuite folgt, in die er sich abends zurückzieht.
Das Mädchen ist schlank und klein, reicht ihm bis zur Brust. Die Haare auf ihrem Kopf wachsen wieder, nachdem Beverly sie in der Vorwoche abrasiert hat. Sie umarmt ihn flüchtig, und er riecht ganz kurz den Karamellduft aus ihrem Mund.
41
Ohne Schlaf
Zehn Monate ist es mittlerweile her, dass Axel Riessen Beverly Andersson zum ersten Mal begegnet ist. Alles hat sich wegen seiner akuten Schlafstörungen ergeben. Seit einem Vorfall vor mehr als dreißig Jahren hat er Probleme zu schlafen. Sein Leben funktionierte, solange er Schlaftabletten nahm und in einen chemischen Schlaf ohne Träume, vielleicht auch ohne wirkliche Erholung sank.
Aber er schlief.
Er musste die Dosis kontinuierlich erhöhen, um Schlaf zu finden. Die Tabletten erzeugten ein einschläferndes Rauschen, das seine Gedanken übertönte. Er liebte sein Medikament und mischte es mit altem, teurem Whisky. Nach mehr als zwanzig Jahren regelmäßigen Konsums fand ihn sein Bruder jedoch bewusstlos und aus beiden Nasenlöchern blutend im Flur.
Im Karolinska-Krankenhaus diagnostizierte man eine schwere Leberzirrhose.
Der chronische Zellschaden in der Leber war so umfassend, dass er unmittelbar nach der obligatorischen Kontrollzeit auf die Warteliste für eine Lebertransplantation gesetzt wurde. Da er jedoch die Blutgruppe 0 und einen sehr ungewöhnlichen Gewebetyp hat, verringerte sich die Zahl möglicher Spender katastrophal.
Sein jüngerer Bruder hätte einen Teil seiner Leber spenden können, wenn er nicht an solch gravierenden Herzrhythmusstörungen litte, dass sein Herz die Belastung einer großen Operation unter Umständen nicht überstehen würde.
Es gab kaum Hoffnung, eine Spenderleber zu finden, aber wenn Axel auf Alkohol und Schlaftabletten verzichtete, würde er nicht sterben. Durch die regelmäßige Einnahme von Konakion, Inderal und Spironolakton war die Leberfunktion gewährleistet, und er konnte ein relativ normales Leben führen.
Das Problem war der Schlafmangel, er schlief nie mehr als eine Stunde pro Nacht. Er wurde in eine Schlafklinik in Göteborg aufgenommen und unterzog sich einer Polysomnographie, aufgrund derer bei ihm chronische Schlaflosigkeit diagnostiziert wurde. Da sich eine medikamentöse Behandlung jedoch verbot, konnte man ihm nur zu diversen Einschlaftechniken raten, zu Meditation, Hypnose und Autosuggestion, aber nichts von alldem half.
Vier Monate nach dem Leberkollaps hatte er eine neun Tage währende Wachphase und erlitt einen Nervenzusammenbruch.
Daraufhin ließ er sich freiwillig in die private psychiatrische Anstalt Sankta Maria Hjärta einliefern.
Dort begegnete er Beverly, die damals erst vierzehn Jahre alt war.
Axel hatte wie üblich schlaflos in seinem Zimmer gelegen, es war ungefähr drei Uhr nachts und vollkommen dunkel gewesen, als sie seine Tür öffnete. Sie war ein unseliger Geist, ein Walker, nachts lief sie durch die Anstaltsflure. Vielleicht suchte sie nur jemanden, bei dem sie bleiben konnte.
Als das Mädchen hereinkam, lag er schlaflos und verzweifelt in seinem Bett. Sie stand regungslos vor ihm, ihr langes Nachthemd hing bis auf den Fußboden herab.
»Ich habe es hier leuchten sehen«, flüsterte sie. »Von dir geht ein Licht aus.«
Nach diesen Worten war sie einfach zu ihm gegangen und hatte sich in sein Bett gelegt. Er war vor Schlafmangel noch immer ganz krank gewesen und wusste nicht, was er tat, er packte sie fest, viel zu fest, und presste sie an sich.
Sie sagte nichts, lag einfach nur da.
Er klammerte sich an ihren kleinen Körper, presste sein Gesicht in ihren Nacken und schlief plötzlich ein.
Er fiel in Träume und die Wasser des Schlafs.
Beim ersten Mal währte es nur ein paar Minuten, aber danach kam sie jede Nacht zu ihm.
Er griff nach ihr, hielt sie fest an sich gedrückt und schlief schweißgebadet ein.
Seine psychische Instabilität verschwand wie Wasserdampf von Glas, und Beverly hörte auf, durch die Korridore zu wandeln.
Axel Riessen und Beverly Andersson beschlossen, das Sankta Maria Hjärta zu verlassen, und was danach geschah, war eine stille und verzweifelte Übereinkunft zwischen den beiden.
Sie waren sich im Klaren darüber, dass die wahre Natur ihres Arrangements ein Geheimnis bleiben musste, aber offiziell erhielt Beverly die Erlaubnis ihres Vaters, so lange zur Untermiete in einer Einliegerwohnung bei Axel Riessen zu wohnen, bis sie ein eigenes Zimmer finden würde.
Beverly Andersson ist inzwischen fünfzehn Jahre alt, und bei ihr ist eine Borderline-Störung diagnostiziert worden. In ihren Beziehungen zu anderen Menschen ist sie maßlos, ihr fehlt die Fähigkeit, Grenzen zu ziehen. Sie verfügt über keinen normal entwickelten Selbsterhaltungstrieb. Früher wurden Mädchen wie Beverly in Irrenanstalten gesteckt und aus Angst vor ungezügelter Sexualität und Unsittlichkeit zwangssterilisiert oder lobotomiert.
Nach wie vor sind es Mädchen wie Beverly, die immer mit den falschen Leuten nach Hause gehen und ihr ganzes Vertrauen in jene setzen, die ihnen nichts Gutes wollen. Doch Beverly hat das Glück, Axel Riessen gefunden zu haben. Das sagt er sich regelmäßig selbst, denn er ist kein Pädophiler, er hat nicht vor, ihr wehzutun oder mit ihr Geld zu verdienen. Er braucht sie nur, um Schlaf zu finden, um nicht unterzugehen. Sie spricht oft davon, dass er sie heiraten wird, wenn sie groß genug dafür ist.
Axel Riessen lässt sie ihre Fantasien rund um die Hochzeit spinnen, weil es sie ruhig und zufrieden macht. Er redet sich ein, dass er sie so vor ihrer Umwelt schützt, weiß aber natürlich, dass er sie gleichzeitig ausnutzt. Er schämt sich, findet aber keinen Ausweg, weil er sich davor fürchtet, erneut in der großen Schlaflosigkeit zu landen.
Mit der Zahnbürste in der Hand kommt Beverly aus dem Badezimmer. Sie nickt zu den drei Geigen, die an der Wand hängen.
»Warum spielst du nicht auf ihnen?«
»Ich kann nicht.« Er lächelt.
»Sollen die da einfach nur rumhängen? Dann gib sie doch lieber jemandem, der spielt.«
»Ich mag die Geigen, weil ich sie von Robert bekommen habe.«
»Du sprichst fast nie über deinen Bruder.«
»Das ist kompliziert …«
»Er baut Geigen in seiner Werkstatt«, sagt sie.
»Ja, Robert baut seine Geigen … und spielt in einem Kammerorchester.«
»Könnte er nicht auf unserer Hochzeit spielen?«, fragt sie und streicht sich Zahncreme aus den Mundwinkeln.
Axel sieht sie an und hofft, dass sie nicht wahrnimmt, wie starr sein Gesicht ist.
»Was für eine tolle Idee.«
Er spürt die Müdigkeit seinen Körper und sein Gehirn überfluten. Also geht er an ihr vorbei ins Schlafzimmer und lässt sich auf die Bettkante fallen.
»Ich bin ziemlich müde, ich …«