»Nicht ahnend, dass Palmcrona zu diesem Zeitpunkt bereits tot ist.«
»Genau, es ist schon zu spät, und alles, was er danach tut, bleibt im Grunde vergeblich.«
»Nach Palmcronas zweiter Mail scheint er in Panik gehandelt zu haben«, sagt Joona. »Er gibt jeden Gedanken an eine Erpressung auf und will nur noch seine Haut retten.«
»Sein Problem ist aber, dass das Foto an Penelopes Glastür hängt.«
»Erst als sie zu der Diskussion im Sender fährt, bietet sich ihm die Gelegenheit, das Bild zu holen«, fährt Joona fort. »Er wartet draußen, sieht Penelope im Taxi davonfahren, begegnet dem kleinen Mädchen im Treppenhaus, eilt in die Wohnung, reißt das Bild von der Tür, nimmt die U-Bahn, schickt das Foto an Palmcrona, sendet ihm eine Mail, fährt in seine Wohnung in der Pontonjärgatan 47, holt das Gepäck, nimmt den Bus nach Södermalm und beeilt sich, zu seinem Boot auf Långholmen zu kommen.«
»Und was lässt dich glauben, dass es hier um mehr geht als eine gewöhnliche Erpressung?«
»Drei Stunden nachdem er sie verlassen hatte, wurde Björns Wohnung bei einem Feuer vollständig zerstört. Die Brandexperten sind überzeugt, dass ein vergessenes Bügeleisen in der Nachbarwohnung die Ursache für das Feuer gewesen ist, aber …«
»Ich habe es mir abgewöhnt, in diesem Fall an Zufälle zu glauben«, bemerkt Saga.
»Ich auch.«
Sie schauen sich erneut den Mailwechsel an, und Joona zeigt auf die beiden Mails von Palmcrona.
»Zwischen seiner ersten und zweiten Mail muss Palmcrona mit jemandem in Kontakt getreten sein«, sagt er.
»Die erste enthält eine Warnung«, hält Saga fest. »Die zweite sagt, dass es zu spät ist und sie beide sterben werden.«
»Ich glaube, dass Palmcrona jemanden anruft, als er die Mail mit dem Erpressungsversuch liest, er hat Todesangst, hofft jedoch, Hilfe zu bekommen«, sagt Joona. »Erst als er erkennt, dass es keine Rettung mehr gibt, schreibt er seine zweite Mail, in der er ohne Umschweife feststellt, dass sie sterben werden.«
»Jemand muss seine Anruflisten überprüfen«, meint Saga.
»Erixon ist schon dabei.«
»Was noch?«
»Wir müssen uns über die Person informieren, die in Björns erster Mail erwähnt wird«, erklärt Joona.
»Raphael Guidi?«
»Du kennst ihn?«
»Alle nennen ihn nur Raphael, nach dem Erzengel«, berichtet Saga. »Er ist ein italienischer Geschäftsmann, der Waffengeschäfte im Mittleren Osten und in Afrika vermittelt.«
»Waffenhandel«, sagt Joona.
»Raphael ist seit dreißig Jahren im Geschäft und hat ein privates Imperium aufgebaut, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er in diese Sache verwickelt ist. Interpol hat nie etwas gegen ihn in der Hand gehabt, es hat zwar Verdachtsmomente gegeben, mehr aber auch nicht.«
»Ist es seltsam, dass Carl Palmcrona sich mit Raphael Guidi trifft?«, erkundigt sich Joona.
»Im Gegenteil«, antwortet Saga. »Es gehört zu seinem Job, auch wenn man es unpassend finden mag, dass er mit ihm mit Champagner anstößt.«
»Aber wegen so etwas bringt man sich weder um, noch ermordet man jemanden«, sagt Joona.
»Nein«, bestätigt sie.
»Also muss auf dem Foto noch etwas anderes zu sehen sein, etwas Gefährliches.«
»Wenn Björn Almskog Palmcrona das Foto geschickt hat, müsste es eigentlich in dessen Wohnung sein«, bemerkt Saga.
»Ich bin die Post im Fach durchgegangen und …«
Er verstummt abrupt, und Saga sieht ihn an.
»Was ist? Woran denkst du?«, fragt sie.
»Dort waren nur persönliche Briefe in dem Fach, keine Reklame, keine Rechnungen«, sagt er. »Die Post ist bereits vorsortiert worden, wenn sie hier ankommt.«
45
Auf der Autobahn
Palmcronas Haushälterin Edith Schwartz hat kein Telefon. Sie wohnt ungefähr siebzig Kilometer nördlich von Stockholm, in der Nähe von Knivsta. Joona sitzt schweigend neben Saga. In sanftem Tempo fährt sie den Sveavägen hinauf. Sie verlassen die Innenstadt, passieren die Abfahrt zum Karolinska-Krankenhaus und fahren auf die Autobahn.
»Der Staatsschutz hat die kriminaltechnische Untersuchung von Penelopes Wohnung abgeschlossen«, erzählt sie. »Ich bin das gesamte Material durchgegangen, demnach steht sie mit keiner linksextremistischen Gruppe in Verbindung. Im Gegenteil, sie distanziert sich von ihnen, ist erklärte Pazifistin und argumentiert gegen die Methoden der Extremisten. Außerdem habe ich mir das wenige angesehen, das wir über Björn Almskog haben. Er arbeitet im Musikklub Debaser am Medborgarplatsen, ist politisch nicht aktiv, wurde allerdings anlässlich eines von Reclaim the City veranstalteten Straßenfestes verhaftet.«
Sie fahren schnell zwischen dem vorbeiflimmernden schwarzen Zaun des Nordfriedhofs und den hohen grünen Bäumen des Haga-Parks hindurch.
»Ich bin unser Archiv durchgegangen«, fährt Saga fort. »Alles, was wir über links- und rechtsextremistische Kreise in Stockholm haben … Ich habe fast die ganze Nacht dafür gebraucht. Das Material ist natürlich geheim, aber du sollst wissen, dass der Staatsschutz einen Fehler gemacht hat: Penelope Fernandez und Björn Almskog sind in keinen Sabotageakt oder etwas anderes in der Art verwickelt. Die beiden sind fast schon lächerlich unschuldig.«
»Dann hast du diese Spur zu den Akten gelegt?«
»Ich bin genau wie du der Überzeugung, dass wir in einem Fall ermitteln, der in einer ganz anderen Liga spielt, etwas viel Größeres als das rechte oder linke Lager … vermutlich sogar etwas Größeres als der Staatsschutz oder die Landeskripo«, erklärt sie. »Ich meine, Palmcronas Tod, das Feuer in Björns Wohnung, Violas Tod und so weiter … hier geht es um ganz andere Dinge.«
Es wird still, und Joona erinnert sich an die Haushälterin, als sie ihm in die Augen sah und fragte, ob sie Palmcrona schon heruntergeholt hätten.
»Was meinen Sie mit ›heruntergeholt‹?«
»Entschuldigen Sie, ich bin nur die Haushälterin, ich dachte …«
Er hatte sie gefragt, ob sie etwas Besonderes gesehen habe.
»Eine Schlinge, die im kleinen Salon vom Lampenhaken herabhing«, hatte sie geantwortet.
»Sie haben die Schlinge gesehen?«
»Selbstverständlich.«
Selbstverständlich, denkt Joona und schaut auf die Autobahn hinaus, die zu seiner Rechten von einer Lärmschutzwand vor Einfamilienhaussiedlungen und Fußballfeldern gesäumt wird. Der scharfe Ton, in dem die Haushälterin das Wort »selbstverständlich« ausgesprochen hat, ist Joona im Gedächtnis geblieben. Er hört ihn immer wieder, während er sich an ihr Gesicht erinnert, als er ihr erklärte, dass man sie bitten würde, ins Präsidium zu kommen, um mit einem Polizeibeamten zu sprechen. Sie hatte nicht besorgt reagiert, wie er es erwartet hätte, sondern nur genickt.
Sie lassen Rotebro hinter sich, wo die Polizei die zehn Jahre alten sterblichen Überreste von Johan Samuelsson in Lydia Evers Garten ausgruben, als sie nach Erik Maria Barks Sohn Benjamin suchten. Damals war Winter, jetzt ist rund um die rostbraunen Eisenbahnschienen, die Parkplätze, Reihenhäuser und freistehenden Häuser alles leuchtend grün.
Joona ruft Nathan Pollock von der Landesmordkommission an und hört bereits nach zwei Ruftönen dessen leicht nasale Stimme.
»Nathan.«
»Du und Tommy Kofoed, ihr habt euch doch die Kreise aus Fußspuren unter Palmcronas Körper angesehen.«
»Die Ermittlungen sind eingestellt worden«, antwortet Pollock und Joona hört ihn auf einer Computertastatur schreiben.
»Ja, aber jetzt haben wir …«
»Ich weiß«, unterbricht Nathan ihn. »Ich habe mit Carlos gesprochen, er hat mir von der neuen Entwicklung erzählt.«
»Kannst du dir die Sache noch einmal anschauen?«
»Bin schon dabei«, antwortet Pollock.
»Das hört sich gut an«, erwidert Joona. »Wann bist du fertig?«
»Jetzt«, antwortet Pollock. »Die Spuren stammen von Palmcrona und seiner Haushälterin Edith Schwartz.«