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»Von sonst niemandem?«

»Nein.«

Saga hält eine konstante Geschwindigkeit von 140 Kilometern in der Stunde. Sie fahren auf der Europastraße 4 immer weiter Richtung Norden.

Joona und Saga haben gemeinsam im Präsidium gesessen, sich die Aufnahme der Vernehmung von Edith Schwarz angehört und John Bengtssons handschriftliche Kommentare dazu gelesen.

Jetzt spielt Joona das Verhör in Gedanken noch einmal durch: Nach den üblichen Formalitäten erklärt John Bengtsson, dass kein Verdacht auf eine Straftat besteht, er aber dennoch hoffe, dass sie ein wenig Licht in die Gründe für Carl Palmcronas Tod bringen könne. Danach wird es still, man hört leise die Belüftung säuseln, ab und zu knarrt ein Stuhl, ein Stift kratzt über Papier. Im Protokoll hat John Bengtsson notiert, dass er angesichts von Edith Schwartz’ offenkundiger Teilnahmslosigkeit beschlossen hatte, abzuwarten, bis sie sprechen würde.

Es dauert etwas mehr als zwei Minuten, bis sie etwas sagt. Das ist eine lange Zeit, wenn man einem Polizisten an einem Schreibtisch gegenübersitzt und nichts als das lang anhaltende Schweigen aufgenommen wird.

»Hatte Direktor Palmcrona seinen Mantel ausgezogen?«, erkundigt sie sich schließlich.

»Warum wollen Sie das wissen?«, fragt John Bengtsson freundlich.

Sie schweigt erneut, und diesmal währt das Schweigen ungefähr eine halbe Minute, ehe es von John Bengtsson gebrochen wird:

»Hatte er den Mantel an, als sie ihn das letzte Mal gesehen haben?«, fragt er.

»Ja.«

»Sie haben Kommissar Linna gesagt, dass Sie eine Schlinge von der Decke herabhängen sahen.«

»Ja.«

»Was dachten Sie, wozu sie gut sein sollte?«

Sie antwortet nicht.

»Wie lange hat sie dort gehangen?«, fragt John.

»Seit Mittwoch«, antwortet sie ruhig.

»Dann haben Sie die Schlinge also am Abend des zweiten Juni an der Decke gesehen, sind nach Hause gefahren, am Morgen des dritten Juni zurückgekehrt, haben erneut die Schlinge gesehen, sind Palmcrona begegnet, haben die Wohnung verlassen und sind am fünften Juni gegen 14.30 Uhr zurückgekehrt … und Kommissar Linna begegnet.«

Im schriftlichen Protokoll stand, dass Edith Schwartz mit den Schultern gezuckt hatte.

»Können Sie mir mit Ihren eigenen Worten von diesen Tagen erzählen?«, fragt John Bengtsson.

»Ich komme am Mittwochmorgen um sechs Uhr zu Direktor Palmcronas Wohnung. Es ist mir nur morgens erlaubt, den Schlüssel zu benutzen, weil Herr Palmcrona bis halb sieben schläft. Er achtet sehr auf regelmäßige Abläufe, es wird also niemals länger geschlafen, nicht einmal sonntags. Ich mahle Kaffeebohnen von Hand, schneide zwei Scheiben Brot ab, bestreiche sie mit stark gesalzener Margarine, belege sie mit zwei Scheiben getrüffelter Leberwurst, Gurken und einer Scheibe Cheddar. Ich decke den Tisch mit einer gestärkten Leinendecke und dem Sommergeschirr. Aus den Tageszeitungen sollen Werbebeilagen und der Sportteil entfernt sein, und sie müssen zusammengefaltet rechts liegen.«

Mit einzigartiger Detailtreue berichtet sie von der Zubereitung der Kalbshackfrikadellen in Sahnesauce am Mittwoch und den Vorbereitungen für das Mittagessen am Donnerstag.

Als sie zu dem Punkt am Samstag gelangt, an dem sie mit den Lebensmitteln fürs Wochenende zurückkehrt und an der Tür klingelt, verstummt sie.

»Mir ist bewusst, wie schwierig das für Sie ist«, sagt John Bengtsson kurz darauf. »Aber ich habe hier gesessen und Ihren Worten gelauscht. Sie haben den Mittwoch und Donnerstag beschrieben, sich an jedes Detail erinnert, aber nicht ein einziges Mal haben Sie etwas erwähnt, was in einem Zusammenhang mit Carl Palmcronas plötzlichem Ableben steht.«

Sie schweigt und gibt ihm keine Erklärung dafür.

»Ich muss Sie bitten, in Gedanken zurückzukehren«, fährt John Bengtsson geduldig fort. »Wussten Sie, dass Carl Palmcrona tot war, als Sie an der Tür klingelten?«

»Nein«, antwortet sie.

»Haben Sie Kommissar Linna nicht gefragt, ob wir ihn schon heruntergeholt hätten?«, fragt Bengtsson mit einer gewissen Ungeduld in der Stimme.

»Doch«, antwortet sie.

»Hatten Sie ihn bereits tot gesehen?«

»Nein.«

»Ach, zum Teufel«, sagt John Bengtsson gereizt. »Können Sie mir nicht einfach erzählen, was Sie wissen? Was brachte Sie dazu, Kommissar Linna zu fragen, ob wir ihn heruntergeholt hatten? Das haben Sie ihn doch gefragt! Warum haben Sie das getan, wenn Sie nicht wussten, dass er tot war?«

In seinem Bericht schrieb John Bengtsson, dass er leider den Fehler begangen hatte, sich von ihrer ausweichenden Art provozieren zu lassen, und sie nach seinem Wutausbruch in Schweigen verfallen war.

»Wirft man mir irgendetwas vor?«, fragt sie kühl.

»Nein.«

»Dann sind wir hier fertig.«

»Es wäre sehr hilfreich, wenn …«

»An mehr erinnere ich mich nicht«, unterbricht sie ihn, und man hört sie von ihrem Stuhl aufstehen.

Joona sieht Saga an, ihr Blick ist auf die Autobahn und den Lkw vor ihr gerichtet.

»Ich denke über die Vernehmung der Haushälterin nach«, sagt Joona.

»Ich auch«, erwidert sie.

»John hat sich über sie aufgeregt, weil er fand, dass sie sich widersprach. Er behauptete, sie hätte gewusst, dass Palmcrona tot war, als sie an der Tür klingelte«, sagt Joona.

»Ja«, entgegnet Saga, ohne ihn anzusehen.

»Aber sie hat die Wahrheit gesagt, denn sie wusste wirklich nicht, dass er tot war. Sie hat es geglaubt, aber nicht gewusst«, fährt er fort. »Deshalb hat sie seine Behauptung verneint.«

»Edith Schwartz scheint eine sehr spezielle Frau zu sein.«

»Ich glaube, dass sie etwas vor uns zu verbergen versucht, ohne lügen zu müssen«, sagt Joona.

46

Das Foto

Joona und Saga bezweifeln, dass sie Edith Schwartz dazu bewegen können, ihnen etwas Entscheidendes zu sagen, aber vielleicht kann sie die Polizei zu dem Foto führen, das möglicherweise der Schlüssel zu allem ist.

Saga blinkt, fährt von der Autobahn ab, geht vom Gas und fährt anschließend links auf die Landstraße 77, fährt unter der Autobahn in Richtung Knivsta her. Kurz darauf biegt sie in einen kleinen, schmalen Kiesweg, der parallel zur Autobahn verläuft.

Niedriger Fichtenwald steht dicht neben einem brachliegenden Feld. Der gemauerte Rand einer Güllegrube hat nachgegeben, und das Blechdach hängt schief.

»Wir müssen gleich da sein«, sagt Saga mit einem Blick auf ihr Navigationsgerät.

Langsam rollen sie bis zu einem rostigen Schlagbaum und halten an. Als Joona aus dem Wagen steigt, hört er den Verkehr auf der Autobahn als leblos schwingendes Dröhnen.

In zwanzig Metern Entfernung sehen sie ein einstöckiges Haus aus schmutzig gelben Backsteinen mit angeschraubten Fensterläden und moosbewachsenen Eternitplatten auf dem Dach.

Als sie sich dem Haus nähern, hören sie einen seltsam sirrenden Laut.

Saga sieht Joona an, und sie bewegen sich vorsichtig auf die Haustür zu, sind auf einmal sehr wachsam. Es raschelt hinter dem Haus, und sie hören erneut das metallische Jaulen.

Das Geräusch kommt schnell näher, und ein großer Hund wirft sich ihnen entgegen. Er stoppt mit offenem Maul nur einen Meter vor Saga, steht auf den Hinterläufen. Dann wird er zurückgezogen, setzt die Vorderläufe ab und beginnt zu bellen. Es ist ein großer Schäferhund mit ungepflegtem Fell. Er bellt aggressiv, wirft den Kopf und läuft seitlich. Erst jetzt sehen sie, dass der Hund an einer langen Leine festgemacht ist. Wenn er läuft, rutscht die Leine mit einem sirrenden Geräusch über ein gespanntes Stahlseil.

Der Hund macht kehrt und hetzt auf Joona zu, wird von der Leine gestoppt und federnd zurückgezogen. Er bellt wütend, wird dann jedoch von einer Stimme aus dem Haus abrupt zum Schweigen gebracht.

»Nils«, ruft eine Frau.

Der Hund wimmert und läuft mit eingezogenem Schwanz im Kreis. Der Boden knarrt, und kurze Zeit später öffnet sich die Tür. Verfolgt von dem sirrenden Laut läuft der Hund hinters Haus. Edith Schwartz tritt in einem genoppten violetten Bademantel auf die Treppe hinaus und sieht sie an.