Penelope öffnet die Glastüren zum Salon, geht an den blauen Sofas, dem Teakholztisch und dem Steuer vorbei.
»Viola?«, ruft sie leise.
Sie geht zur Pantry hinunter, holt einen Topf aus dem Schrank, stellt ihn jedoch zunächst nur auf der Kochplatte ab, da ihr Herz plötzlich schneller schlägt. Sie wirft einen Blick in das große Badezimmer und bewegt sich dann zum Vorpiek, wo sie und Björn schlafen. Sie öffnet die Tür, sieht sich in der dunklen Kajüte um und glaubt im ersten Moment, sich selbst im Spiegel zu sehen.
Viola sitzt ganz still, und ihre Hand ruht auf dem rosa Kissen vom Trödel.
»Was machst du hier?«
Penelope hört sich ihre Schwester fragen, warum sie hier im Schlafzimmer ist, obwohl sie längst begriffen hat, dass etwas nicht stimmt. Violas Gesicht ist teigig weiß und feucht, ihre Haare sind nass und strähnig:
»Viola? Was ist los? Viola?«
Sie weiß, was passiert ist, was nicht stimmt, es kommt kein Atem von ihrer Schwester, ihre Haut strahlt keine Wärme ab, es ist nichts mehr von ihr da, ihre Lebensflamme ist erloschen. Der enge Raum wird dunkler, schließt sich um Penelope. Mit fremder Stimme wimmert sie und stolpert rückwärts, reißt Kleider herunter, stößt mit der Schulter hart gegen den Türpfosten, dreht sich um und läuft die Treppe hinauf.
Als sie aufs Achterdeck hinauskommt, ringt sie nach Luft, als wäre sie dem Ersticken nahe. Sie hustet und schaut sich mit eiskaltem Grauen im Körper um. In hundert Metern Entfernung sieht sie am Ufer einen fremden Mann in schwarzen Kleidern. Penelope erfasst den Zusammenhang. Sie weiß, dass es der Mann ist, der sich im Schatten unter der Brücke in dem Militärschlauchboot aufhielt, der ihr den Rücken zuwandte, als sie das Boot passierte. Sie begreift, dass dieser schwarz gekleidete Mann Viola getötet hat und noch nicht fertig ist.
Der Mann steht am Wasser und winkt Björn zu, der zwanzig Meter vom Land entfernt schwimmt, er ruft etwas und hebt den Arm. Björn hört ihn und hält inne, tritt auf der Stelle und blickt suchend zum Ufer.
Die Sekunden stehen still. Penelope rennt zum Steuer, wühlt in der Werkzeugkiste, findet ein großes Messer und läuft zum Achterdeck.
Sie sieht Björns langsame Schwimmzüge, die Wasserringe um ihn herum. Er sieht den Mann am Ufer mit fragender Miene an. Dieser winkt ihn heran, er möchte, dass Björn zu ihm kommt. Björn lächelt unsicher und beginnt, landeinwärts zu schwimmen.
»Björn«, schreit Penelope, so laut sie kann. »Schwimm weiter raus!«
Der Mann am Ufer dreht sich zu ihr um und läuft auf das Boot zu. Penelope kappt das Tau, rutscht auf dem nassen Holzdeck aus, rappelt sich wieder auf, stolpert zum Steuer und lässt den Motor an. Ohne sich umzuschauen, holt sie den Anker ein und schaltet gleichzeitig in den Rückwärtsgang.
Björn muss sie gehört haben, denn er hat sich vom Land abgewandt und schwimmt stattdessen auf die Jacht zu. Penelope steuert ihn an und sieht im selben Moment, dass der schwarz gekleidete Mann die Richtung gewechselt hat und den Anstieg hinauf zur anderen Inselseite läuft. Ohne wirklich nachzudenken, wird ihr klar, dass der Mann sein schwarzes Schlauchboot in der nördlich gelegenen Bucht an Land gezogen haben muss.
Sie weiß, dass sie keine Chance haben werden, es abzuhängen.
Donnernd wendet sie das große Boot und hält auf Björn zu. Sie schreit ihm etwas zu, nähert sich, bremst ab und streckt ihm einen Bootshaken entgegen. Das Wasser ist kalt. Björn wirkt verängstigt und erschöpft. Sein Kopf geht immer wieder unter. Sie verletzt ihn mit der Spitze des Bootshakens, er blutet an der Stirn.
»Du musst dich festhalten«, ruft sie.
Das schwarze Schlauchboot fährt bereits in einem Bogen um die Insel herum. Das Geräusch seiner Motoren ist deutlich zu hören. Björn verzieht das Gesicht vor Schmerz. Nach mehreren Versuchen gelingt es ihm endlich, den Arm um den Bootshaken zu legen. Penelope zieht ihn, so schnell sie kann, zur Badeplattform. Er schafft es, sich am Rand festzuhalten. Penelope verliert den Bootshaken und sieht ihn im Wasser davontreiben.
»Viola ist tot«, schreit sie und hört die Mischung aus Panik und Verzweiflung in ihrer Stimme.
Sobald Björn sich an der Leiter festgeklammert hat, läuft sie zum Steuer und gibt Vollgas.
Björn klettert über die Reling, und sie hört, wie er ihr zuschreit, dass sie geradeaus nach Ornäs huvud fahren soll.
Das Geräusch der brüllenden Motoren des schnellen Schlauchboots kommt immer näher.
Penelope fährt eine enge Kurve, es knallt laut unter dem Rumpf.
»Er hat Viola umgebracht«, wimmert Penelope.
»Pass auf die Felsen auf«, warnt Björn mit klappernden Zähnen.
Das Schlauchboot hat Stora Kastskär umfahren und beschleunigt auf der glatten, offenen Wasserfläche.
Über Björns Gesicht läuft Blut.
Sie nähern sich rasch der großen Insel. Björn dreht sich um und sieht das Schlauchboot in etwa dreihundert Meter Entfernung.
»Zum Anleger!«
Sie schwenkt herum, stellt auf volle Kraft zurück und schaltet den Motor aus, als der Bug krachend gegen den Bootssteg stößt. Das Boot schürft in ganzer Länge seitlich an einer nassen Holzleiter entlang. Wellen schlagen schäumend gegen die Felsen und rollen zurück. Das Boot neigt sich zur Seite. Treppenstufen zersplittern. Wasser schlägt über die Reling. Sie gehen von Bord und betreten den Anleger. Hinter sich hören sie den Rumpf in den Wellen knirschend gegen den Anleger schaukeln. Sie rennen an Land, während das Schlauchboot näher kommt. Penelope rutscht aus, stützt sich mit der Hand ab und klettert keuchend das steile Ufer zum Waldsaum hoch. Unter ihr verstummen die Motoren des Schlauchboots, und Penelope weiß, dass ihr Vorsprung minimal ist. Zusammen mit Björn läuft sie zwischen die Bäume und tiefer in den Wald hinein, wobei ihre Gedanken in Panik fliegen und ihre Augen nach einer Stelle Ausschau halten, an der sie sich verstecken können.
4
Der schwebende Mann
Paragraph 21 des Polizeigesetzes legt fest, auf welche Weise sich ein Polizist Zugang zu einem Haus, einem Raum oder einem anderen Ort verschaffen darf, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass dort jemand gestorben, bewusstlos oder anderweitig nicht in der Lage ist, Hilfe zu rufen.
Polizeimeister John Bengtsson erhält an diesem Samstag im Juni den Auftrag, die oberste Wohnung in der Grevgatan 2 zu untersuchen, weil Carl Palmcrona, der Generaldirektor der Staatlichen Waffenkontrollbehörde, aus unerklärlichen Gründen nicht zur Arbeit erschienen ist und einen Termin mit dem Außenminister verpasst hat.
Es ist bei Weitem nicht das erste Mal, dass John Bengtsson in eine Wohnung eindringt, um nach Toten oder Verletzten zu suchen. In den meisten Fällen ist dies auf Veranlassung von Angehörigen geschehen, die einen Selbstmord befürchteten. Schweigende, vor Angst gelähmte Eltern, die im Treppenhaus warten mussten, während er hineinging und die Zimmer durchsuchte. Manchmal hat er junge Männer mit kaum fühlbarem Puls nach einer Überdosis Heroin gefunden, und manchmal ist er auf Mordschauplätze gestoßen, auf Frauen, die jemand im heimischen Wohnzimmer im Licht des Fernsehers zu Tode geprügelt hatte.
Als er das Haus betritt, hat John Bengtsson sowohl ein Brecheisen als auch eine Sperrpistole dabei. Er nimmt den Aufzug in die fünfte Etage und klingelt an der Tür. Daraufhin wartet er einen Moment, stellt seine schwere Tasche auf dem Treppenabsatz ab und mustert das Schloss in der Tür. Plötzlich hört er ein Stockwerk tiefer ein schlurfendes Geräusch. Es klingt, als ginge jemand mit leisen, fast schleichenden Schritten die Treppe hinunter. Polizeimeister John Bengtsson horcht einen Moment, streckt anschließend die Hand aus und drückt die Klinke hinunter: Die Tür ist unverschlossen und gleitet auf ihren vier Scharnieren sanft auf.