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»Ist jemand zu Hause?«, ruft er.

John Bengtsson wartet einige Sekunden, zieht die Tasche hinter sich her über die Schwelle, schließt die Tür, putzt sich die Füße auf der Türmatte ab und geht den großen Flur entlang.

Aus einem der angrenzenden Zimmer ertönt ruhige Musik. Er bewegt sich in ihre Richtung, klopft an und tritt ein. Er gelangt in einen geräumigen Wohnraum, spartanisch möbliert mit drei von Carl Malmsten entworfenen Sofas, einem flachen Glastisch und dem kleinen Gemälde eines Schiffs im Sturm an einer Wand. Von einer flachen, durchsichtigen Musikanlage geht ein eisiges bläuliches Licht aus. Aus den Lautsprechern schallt melancholische, fast fragende Geigenmusik.

John Bengtsson durchquert das Zimmer, erreicht eine Doppeltür, öffnet sie und blickt in einen Salon mit hohen Jugendstilfenstern. Das Sommerlicht draußen wird von den kleinen Scheiben in den oberen Fensterpartien gebrochen.

Mitten in dem weißen Raum schwebt ein Mann.

Der Anblick hat etwas Übernatürliches.

John Bengtsson starrt den Toten an, und es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis er die Wäscheleine entdeckt, die an einem Lampenhaken befestigt ist.

Der gut gekleidete Mann ist vollkommen still, als wäre er bei einem Sprung in die Höhe erstarrt, mit gestreckten Fußgelenken und Schuhspitzen, die zum Erdboden zeigen.

Erhängt – aber da ist noch etwas anderes, etwas, das nicht passt, nicht stimmt.

John Bengtsson darf das Zimmer keinesfalls betreten. Der Fundort muss intakt hinterlassen werden. Sein Herz schlägt schnell, er spürt den stampfenden Rhythmus seines Pulses, schluckt schwer, kann den Blick jedoch nicht von dem schwebenden Mann in dem leeren Raum losreißen.

In John Bengtssons Kopf taucht, wie geflüstert, ein Name auf: Joona, ich muss mit Joona Linna sprechen.

Es sind keine Möbel in dem Zimmer, nur ein erhängter Mann, der aller Wahrscheinlichkeit nach Carl Palmcrona ist, der Generaldirektor der Staatlichen Waffenkontrollbehörde.

Die Wäscheleine ist in der Mitte der Decke an einem Lampenhaken im Zentrum der Deckenrosette befestigt.

Da ist nichts, worauf er hätte steigen können, denkt John Bengtsson.

Die Decke ist mindestens dreieinhalb Meter hoch.

John Bengtsson versucht, sich zu beruhigen, klar zu denken, um alles in sich aufnehmen zu können, was er sieht. Das Gesicht des Erhängten ist bleich wie feuchter Zucker, und er meint, in den aufgerissenen Augen nur vereinzelte punktuelle Blutungen zu erkennen. Der Mann trägt über seinem hellgrauen Anzug einen dünnen Mantel und flache Schuhe. Eine schwarze Tasche und ein Handy liegen ein Stück von der Urinpfütze entfernt, die sich unter seinem Körper gebildet hat, auf dem Parkett.

Plötzlich erzittert der erhängte Mann.

John Bengtsson ringt nach Luft.

Es wummert schwer über der Decke, vom Dachboden ertönen Hammerschläge, jemand geht im Speicher über den Fußboden, es wummert erneut, und Palmcronas Körper zittert. Das Geräusch einer Bohrmaschine ertönt und verstummt. Ein Mann ruft etwas. Er brauche mehr Kabel, die Kabeltrommel, ruft er.

John Bengtsson spürt, dass sich sein Puls allmählich beruhigt, als er durch den Salon zurückgeht. Die Wohnungstür steht offen. Er hält inne, denkt, dass er sich ganz sicher ist, sie ordentlich zugemacht zu haben, erkennt jedoch, dass er sich in diesem Punkt auch irren kann. Er verlässt die Wohnung, und noch bevor er seinem Kommissariat Meldung macht, ruft er Joona Linna von der Landeskriminalpolizei an.

5

Die Landesmordkommission

Es ist die erste Juniwoche. In Stockholm werden die Menschen schon seit Wochen morgens viel zu früh wach. Die Sonne geht um halb vier auf, und es bleibt fast die ganze Nacht hell. Der Frühsommer ist ungewöhnlich warm gewesen. Traubenkirsche und Flieder sind fast gleichzeitig ausgeschlagen. Schwere Blütendolden verströmen ihre Düfte vom Kronobergspark bis zum Eingang des Landespolizeiamts.

Die Landeskriminalpolizei ist Schwedens einzige zentrale operative Polizeieinheit, die für die Bekämpfung schwerer Kriminalität auf nationaler und internationaler Ebene zuständig ist.

Carlos Eliasson, der Leiter der Landeskriminalpolizei, steht an dem niedrigen Fenster im achten Stock mit Blick auf die steilen Böschungen des Kronobergparks. Er hält ein Telefon in der Hand, wählt Joona Linnas Nummer, hört, dass er ein weiteres Mal mit der Mailbox verbunden wird, unterbricht die Verbindung, legt das Telefon auf den Schreibtisch und sieht auf die Uhr.

Petter Näslund betritt Carlos’ Büro, räuspert sich leise, bleibt stehen und lehnt sich an ein Plakat mit der Aufschrift »Wir überwachen, beschatten und greifen ein«.

Aus dem Nebenzimmer dringt ein schläfriges Telefonat, in dem es um europäische Haftbefehle und das Schengener Informationssystem geht.

»Pollock und seine Jungs sind gleich hier«, sagt Petter.

»Ich kann die Uhr lesen«, antwortet Carlos ruhig.

»Die belegten Brötchen sind jedenfalls fertig«, sagt Petter.

Carlos verkneift sich ein Lächeln.

»Hast du gehört, dass sie Leute rekrutieren wollen?«

Petter wird rot und senkt den Blick, sammelt sich und schaut dann wieder auf. »Ich würde … Fällt dir jemand ein, der besser in die Landesmordkommission passen würde?«

Die Landesmordkommission besteht aus sechs Experten, die bei Mordermittlungen in ganz Schweden helfen. Die Kommission arbeitet ausgesprochen methodisch, auf der Basis eines Konzepts mit der Abkürzung PEST, Polizeiliche Ermittlungen bei schweren Straftaten.

Die Mitglieder der Landesmordkommission ächzen unter einer enormen Arbeitsbelastung. Sie sind so gefragt, dass sie praktisch nie die Zeit finden, sich im Landespolizeiamt zu treffen.

Sobald Petter Näslund den Raum verlassen hat, setzt Carlos sich auf seinen Stuhl und betrachtet die Paradiesfische im Aquarium. Als er sich nach der Dose mit Fischfutter streckt, klingelt das Telefon.

»Ja«, meldet er sich.

»Sie kommen jetzt hoch«, teilt Magnus von der Rezeption ihm mit.

»Danke.«

Carlos unternimmt einen letzten Versuch, Joona Linna zu erreichen, ehe er sich von seinem Stuhl erhebt, sich selbst einen Blick im Spiegel zuwirft und das Zimmer verlässt. Als er in den Korridor hinaustritt, ertönt ein Klingelton, und die Aufzugtüren gleiten lautlos auseinander. Beim Anblick der Männer von der Landesmordkommission schießt ihm ein Bild durch den Kopf. Eine Erinnerung an ein Konzert mit den Rolling Stones, in dem er vor einigen Jahren mit ein paar Kollegen war. So wie sie damals auf die Bühne gekommen waren, hatten sie an eine Gruppe entspannter Geschäftsleute erinnert. Genau wie die Mitglieder der Landesmordkommission trugen die Musiker alle dunkle Anzüge und Krawatten.

An der Spitze Nathan Pollock, die grauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, gefolgt von Erik Eriksson mit seiner diamantenbesetzten Brille, die ihm in der Gruppe den Namen Elton eingebracht hat, dahinter schlendert Niklas Dent neben P. G. Bondesson und schließlich der Kriminaltechniker Tommy Kofoed, der in gebückter Haltung mürrisch auf den Boden starrt.

Carlos führt die Gruppe ins Besprechungszimmer. Benny Rubin, der operative Chef, sitzt bereits mit einer Tasse Kaffee an dem runden Tisch und erwartet sie. Tommy Kofoed nimmt sich einen Apfel aus dem Obstkorb und beginnt vernehmlich zu kauen. Nathan Pollock sieht ihn an und schüttelt den Kopf, sodass Kofoed mit fragendem Gesichtsausdruck mitten in einem Bissen innehält.

»Herzlich willkommen«, begrüßt Carlos die Anwesenden. »Es freut mich, dass alle die Zeit gefunden haben zu kommen, da heute einige wichtige Punkte auf der Tagesordnung stehen.«

»Sollte Joona Linna nicht auch dabei sein?«, erkundigt sich Tommy Kofoed.