»Es war gut, dass du angerufen hast«, sagt Joona.
»Hast du den Toten angefasst?«, fragt Tommy Kofoed mürrisch.
»Ich habe nicht einmal das Zimmer betreten«, antwortet John.
»Sehr gut«, murmelt Kofoed und beginnt, zusammen mit John Bengtsson Trittplatten auszulegen.
Kurz darauf können auch Joona und Nathan Pollock den Flur betreten. John Bengtsson erwartet sie neben einem blauen Sofa. Er zeigt auf die Doppeltür, die zu einem hellen Raum führt und einen Spaltbreit offen steht. Joona geht über die Trittplatten und stößt die Flügel der Tür weit auf.
Warmes Sonnenlicht flutet durch eine Reihe hoher Fenster herein. Carl Palmcrona hängt mitten in dem geräumigen Zimmer. Er trägt einen hellen Anzug, einen Sommermantel und dünne Halbschuhe. Fliegen krabbeln über sein bleiches Gesicht, um Augen und Mundwinkel, legen kleine gelbe Eier und umschwirren die Urinpfütze und den schlanken Aktenkoffer auf dem Fußboden. Die dünne Wäscheleine hat sich tief in Palmcronas Hals eingeschnitten, die Schnurfurche ist dunkelrot, und es ist Blut ausgetreten und unter seine Hemdbrust gelaufen.
»Hingerichtet«, konstatiert Tommy Kofoed und zieht ein Paar Schutzhandschuhe an.
Auf einmal ist jede Andeutung von schlechter Laune aus seiner Stimme und seinem Gesicht verschwunden. Lächelnd geht er auf die Knie und beginnt, den hängenden Körper zu fotografieren.
»Wir werden vermutlich Verletzungen an der Halswirbelsäule feststellen«, sagt Pollock und zeigt hoch.
Joona blickt zur Decke hinauf und anschließend auf den Fußboden.
»Es handelt sich also um eine Demonstration«, fährt Kofoed eifrig fort und lässt die Kamera Blitze auf den Toten werfen. »Was ich meine, ist, der Mörder versucht erst gar nicht, das Verbrechen zu vertuschen, sondern will uns ganz im Gegenteil etwas sagen, irgendetwas zum Ausdruck bringen.«
»Ja genau, das habe ich mir auch überlegt«, meldet sich John Bengtsson zu Wort. »Das Zimmer ist leer, es gibt keine Stühle oder Leitern, auf die er hätte steigen können.«
»Also, was will man uns hier sagen«, fährt Tommy Kofoed fort, senkt die Kamera und mustert den Körper mit zusammengekniffenen Augen. »Erhängen wird gerne mit Verrat in Verbindung gebracht, mit Judas Ischariot, der …«
»Warte mal«, unterbricht Joona ihn sanft.
Sie sehen seine vage Geste Richtung Fußboden.
»Was ist?«, fragt Pollock.
»Ich glaube, es war Selbstmord«, erklärt Joona.
»Ja klar, ein typischer Selbstmord«, sagt Tommy Kofoed und lacht ein bisschen zu laut. »Er hat mit den Flügeln geschlagen und ist hochgeflogen und …«
»Die Aktentasche«, fährt Joona fort. »Wenn er die Tasche hochkant gestellt hätte, wäre er da hochgekommen.«
»Aber nicht bis zur Decke«, wendet Pollock ein.
»Die Schlinge könnte er schon vorher angebracht haben.«
»Das ist richtig, aber ich denke trotzdem, dass du dich irrst.«
Joona zuckt mit den Schultern und murmelt:
»Zusammen mit der Musik und dem Knoten …«
»Sollen wir uns die Aktentasche nicht einfach ansehen?«, fragt Pollock.
»Ich muss erst noch ein paar Spuren sichern«, sagt Kofoed. Schweigend beobachten sie Tommy Kofoed, der mit seinem kleinen, gekrümmten Körper vorwärtskrabbelt und einen schwarzen Plastikfilm mit einer dünnen Gelatineschicht auf dem Boden ausrollt. Anschließend walzt er den Film vorsichtig mit einem Gummiroller aus.
»Kannst du mir bitte zwei Biopacks und einen großen Behälter holen?«, fragt er und zeigt auf den Materialkoffer.
»Wellpappe?«, fragt Pollock nach.
»Ja, bitte«, antwortet Kofoed und fängt die Biopacks auf, die Pollock ihm in hohem Bogen zuwirft.
Er sichert die biologischen Spuren auf dem Fußboden und winkt anschließend Nathan Pollock ins Zimmer.
»Du wirst auf der hinteren Seite des Aktenkoffers Fußabdrücke finden«, sagt Joona. »Er ist nach hinten gekippt, und der Körper hat diagonal geschaukelt.«
Nathan Pollock sagt nichts, geht zu der ledernen Aktentasche und geht auf die Knie. Als er sich streckt und die Tasche hochkant stellt, fällt sein silbriger Pferdeschwanz über seine Schulter. Auf dem schwarzen Leder sind deutlich sichtbar hellgraue Schuhabdrücke zu erkennen.
»Was habe ich euch gesagt?«, fragt Joona.
»Verdammt«, sagt Tommy Kofoed beeindruckt und lächelt über das ganze müde Gesicht.
»Selbstmord«, murmelt Pollock.
»Zumindest rein technisch«, sagt Joona.
Sie betrachten den hängenden Körper.
»Womit haben wir es hier zu tun?«, fragt Kofoed. »Eine Person, die Entscheidungen über die Ausfuhr von Waffen trifft, hat sich das Leben genommen.«
»Nichts für uns«, seufzt Pollock.
Tommy Kofoed rollt die Handschuhe von den Händen und deutet auf den hängenden Mann.
»Joona? Was war das mit dem Knoten und der Musik?«
»Das da ist ein doppelter Schotstek«, sagt Joona und zeigt auf den Knoten um den Lampenhaken. »Den habe ich mit Palmcronas langer Karriere bei der Marine in Verbindung gebracht.«
»Und die Musik?«
Joona hält inne und sieht ihn nachdenklich an.
»Was sagt dir die Musik?«, fragt er.
»Ich weiß nicht, es ist eine Sonate, für Geige«, antwortet Kofoed. »Frühes neunzehntes Jahrhundert oder …«
Er verstummt, als es an der Tür klingelt. Die vier sehen einander an. Joona geht in den Flur, und die anderen folgen ihm, bleiben aber im Salon zurück, um vom Treppenhaus aus nicht gesehen zu werden.
Joona geht durch den Flur, zögert und überlegt kurz, durch den Spion zu schauen, verzichtet dann jedoch darauf. Als er die Hand ausstreckt und die Klinke herunterdrückt, spürt er, dass Luft durchs Schlüsselloch strömt. Die schwere Tür gleitet auf. Der Treppenabsatz liegt im Dunkeln. Die Lampen im Hausflur sind inzwischen erloschen, und durch die rotbraunen Fensterscheiben im Treppenhaus fällt nur schwaches Licht herein. Plötzlich hört Joona langsame Atemzüge, jemand atmet in seiner unmittelbaren Nähe. Ein raues, schweres Atmen einer verborgenen Person. Joonas Hand schiebt sich zu seiner Pistole, als er vorsichtig hinter der offenen Tür hervorlugt. In dem Lichtstreifen im Spalt an den Türangeln steht eine hoch aufgeschossene Frau mit großen Händen. Sie ist etwa fünfundsechzig Jahre alt und steht vollkommen still. Auf ihrer Wange klebt ein großes, hautfarbenes Pflaster. Ihre grauen Haare sind zu einer kurzen, mädchenhaften Pagenfrisur geschnitten. Sie sieht Joona ohne die leiseste Andeutung eines Lächelns unverwandt in die Augen.
»Haben Sie ihn heruntergeholt?«, fragt sie.
7
Hilfsbereite Menschen
Joona hatte eigentlich geglaubt, dass er es pünktlich zu der für ein Uhr angesetzten Besprechung mit der Landesmordkommission schaffen würde.
Er wollte vorher lediglich mit Disa in Rosendals Gärtnerei auf Djurgården zu Mittag essen. Joona kam zu früh, blieb einen Moment im Sonnenlicht stehen und betrachtete den Dunst, der über dem kleinen Stück Land mit Weinstöcken hing. Dann sah er Disa mit ihrer Stofftasche über der Schulter näher kommen. Ihr schmales Gesicht mit den intelligenten Zügen war von Sommersprossen übersät, und ihre Haare, die sonst immer zu zwei zerzausten Zöpfen gebunden waren, fielen ausnahmsweise offen über ihre Schultern. Sie hatte sich schön gemacht und trug ein klein geblümtes Kleid und Sommersandalen mit Keilabsatz.
Sie umarmten sich behutsam.
»Hallo«, sagte Joona. »Wie schön du bist.«
»Du aber auch«, erwiderte Disa.
Sie bedienten sich am Buffet und setzten sich an einen der Tische im Freien. Joona war aufgefallen, dass sie sich die Fingernägel lackiert hatte. Disa war Chefarchäologin, hatte daher meistens kurz geschnittene, erdige Nägel. Sein Blick wanderte von ihren Händen zum Obstgarten.