Stewe Billgren senkt die Pistole, versucht, sich zu beruhigen, langsamer zu atmen. In seinen Ohren klingelt mittlerweile ein hoher Ton. Er weiß, dass die Polizei ausländische Botschaften nicht ohne Weiteres betreten darf, sodass er den Täter nicht einfach verfolgen kann. Er muss stehen bleiben, kann nichts tun, die Befugnisse der schwedischen Polizei enden am Tor zum Botschaftsgelände.
81
Die deutsche Botschaft
Ein uniformierter Polizist steht zehn Meter vor der Straßensperre auf der Sturegatan am Humlegården, als Joona Linna sich mit hoher Geschwindigkeit nähert. Der Beamte will ihn anweisen, zu drehen und einen anderen Weg zu nehmen, aber Joona fährt einfach weiter, bremst am Straßenrand und verlässt das Auto. Er weist sich hastig aus, bückt sich unter das Plastikband, das die Absperrung markiert, und läuft die Humlegårdsgatan in Richtung Markthalle hinauf.
Seit man ihn angerufen hat, sind nur achtzehn Minuten vergangen, aber der Schusswechsel ist bereits vorbei und Krankenwagen treffen ein.
Einsatzleiterin Jenny Göransson erhält gerade einen Bericht über das Ende der Verfolgungsjagd im Botschaftsviertel. Der Täter hat möglicherweise die deutsche Botschaft betreten. Saga Bauer steht vor der Markthalle und spricht mit einer Kollegin, auf deren Schultern eine Decke liegt. Saga begegnet Joonas Blick und winkt ihn zu sich. Er geht zu den beiden Frauen und nickt Saga zu.
»Ich dachte, ich würde vor dir hier sein«, sagt er.
»Du bist zu langsam, Joona.«
»Ja«, erwidert er.
Die Frau mit der Decke auf den Schultern blickt zu Joona auf und begrüßt ihn.
»Das ist Mira Carlsson von der Fahndung«, berichtet Saga. »Sie ist eine der Ersten gewesen, die in die Markthalle gegangen sind, und sie glaubt, dass sie den Täter mit einem Pistolenschuss verletzt hat.«
»Aber sein Gesicht haben Sie nicht gesehen?«, sagt Joona.
»Nein«, antwortet Mira.
Joona betrachtet den Eingang der Markthalle und wendet sich an Saga.
»Sie haben uns gesagt, alle umliegenden Gebäude würden gesichert«, murrt er.
»Die Strategen haben wahrscheinlich gedacht, die Entfernung wäre zu groß, um …«
»Sie haben sich geirrt«, unterbricht Joona sie.
»Ja«, erwidert Saga und deutet zur Markthalle hinüber. »Er hat sich hinter dem Gittertor vor dem Eingang versteckt und einen Schuss durch ihr Fenster abgefeuert.«
»Das habe ich gehört, sie hatte Glück«, sagt er leise.
Das Gelände rund um den Haupteingang zur Östermalm-Markthalle ist abgesperrt, kleine Schilder mit Ziffern markieren die ersten Funde der Spurensicherung: einen Schuhabdruck und die Patronenhülse eines amerikanischen Vollmantelpräzisionsgeschosses. Hinter den weit geöffneten Türen sieht Joona einige Tomaten, die auf den Boden gerollt sind, sowie ein bogenförmiges Magazin des schwedischen Sturmgewehrs AK5.
»Stewe Billgren«, berichtet Saga. »Der Kollege von der Fahndung … der den Verdächtigen bis ins Botschaftsviertel verfolgt hat, behauptet, gesehen zu haben, dass der Mann durch den Haupteingang die deutsche Botschaft betreten hat.«
»Könnte er sich geirrt haben?«
»Schon möglich … Wir haben uns jedenfalls mit der Botschaft in Verbindung gesetzt, und dort hat man uns gesagt, dass keine …«, sie wirft einen Blick in ihr Notizbuch, » … man meint, dass es auf dem Botschaftsgelände keine ungewöhnlichen Aktivitäten gegeben hat.«
»Hast du mit Billgren gesprochen?«
»Ja.«
Saga wirft Joona einen ernsten Blick zu:
»Es hat eine Explosion gegeben, und er hört kaum noch etwas, ist sich bei seinen Beobachtungen aber vollkommen sicher, er hat deutlich gesehen, dass der Täter die Botschaft betreten hat.«
»Er könnte sich durch den Hinterausgang hinausgeschlichen haben.«
»Jedenfalls haben wir mittlerweile das ganze Gebäude umstellt, ein Hubschrauber kreist darüber. Wir warten auf die Zusage, das Gebäude betreten zu dürfen.«
Joona wirft einen gereizten Blick in Richtung Markthalle:
»Das kann dauern.«
Er zieht sein Handy aus der Tasche und sagt wie zu sich selbst: »Ich spreche mal mit Klara Olofsdotter.«
Klara Olofsdotter ist Chefanklägerin bei der Generalstaatsanwaltschaft. Sie meldet sich beim zweiten Rufton.
»Ich weiß, dass Sie es sind, Joona Linna«, sagt sie grußlos. »Und ich weiß, worum es geht.«
»Dann wissen Sie sicher auch, dass wir in das Haus müssen«, sagt Joona ins Telefon.
In seiner Stimme schwingt der raue Ton einer unglaublichen Hartnäckigkeit mit.
»So einfach ist das nicht. Die Sache ist verflucht merkwürdig, entschuldigen Sie bitte meine Ausdrucksweise. Ich habe mit der Botschaftssekretärin telefoniert«, erläutert Klara Olofsdotter. »Sie behauptet, dass in der Botschaft alles in Ordnung ist.«
»Wir glauben, dass er sich in dem Gebäude aufhält«, sagt Joona.
»Aber wie soll er sich Zugang zur Botschaft verschafft haben?«
»Er könnte ein deutscher Staatsbürger sein, der sein Recht auf konsularische Hilfe in Anspruch nehmen will, sie haben eben erst geöffnet, er könnte ein schwedischer Teilzeitangestellter sein, eine Passierkarte haben oder … irgendeine Form von diplomatischem Status, vielleicht genießt er Immunität, er könnte von jemandem geschützt werden, wir wissen es noch nicht, womöglich ist er ein enger Verwandter des Verteidigungsattachés oder von Joachim Rücker.«
»Aber ihr wisst ja nicht einmal, wie er aussieht«, sagt sie. »Es gibt keine Zeugen, wie sollen wir in die Botschaft hineingehen, ohne zu wissen, wie …«
»Ich treibe einen Zeugen auf«, unterbricht Joona sie.
Es wird kurz still. Joona hört Klara Olofsdotter in den Hörer atmen.
»Dann sorge ich dafür, dass ihr hineinkommt«, sagt sie.
82
Das Gesicht
Joona Linna und Saga Bauer stehen in der sicheren Wohnung am Östermalmstorg. Alle Lampen sind ausgeschaltet. Vor den Fenstern leuchtet der morgendliche Himmel. Penelope Fernandez sitzt auf dem Fußboden, an die hintere Wand gelehnt und zeigt auf das Fenster.
»Ja, dort ist die Kugel eingedrungen«, bestätigt Saga gedämpft.
»Die Lampe hat mich gerettet«, sagt Penelope leise und senkt die Hand.
Sie betrachten die Reste der Lampe im Fenster, die herabhängende Schnur und den zerbrochenen Plastiksockel.
»Ich habe das Licht ausgemacht, um besser sehen zu können, was auf dem Platz passiert«, sagt Penelope. »Die Lampe pendelte, und er hat gedacht, das wäre ich, stimmt’s? Er hat geglaubt, ich hätte mich bewegt, dass die Wärme von meinem Körper stammt.«
Joona wendet sich an Saga.
»Hat er ein optoelektronisches Zielgerät benutzt?«
Saga nickt und sagt:
»Laut Jenny Göransson hatte er eins.«
»Wie bitte?«, fragt Penelope.
»Sie haben recht – wahrscheinlich hat die Lampe Ihnen das Leben gerettet«, antwortet Joona.
»Gott im Himmel«, schluchzt sie.
Joona sieht sie ruhig an, seine grauen Augen leuchten.
»Penelope«, sagt er. »Sie haben sein Gesicht gesehen, stimmt’s? Nicht eben, aber vorher. Sie haben gesagt, Sie hätten es nicht gesehen. Ich verstehe, dass Sie Angst haben, aber … ich möchte, dass Sie nicken, wenn Sie glauben, ihn beschreiben zu können.«
Sie wischt sich rasch die Wangen trocken, schaut zu dem Kommissar auf und schüttelt den Kopf.
»Können Sie uns irgendeine Art von Personenbeschreibung geben?«, fragt Saga behutsam.
Penelope denkt an die Stimme des Kriminalkommissars, seinen weichen finnischen Akzent und fragt sich, was ihn so sicher macht, dass sie das Gesicht ihres Verfolgers gesehen hat. Sie hat ihn gesehen, weiß aber nicht, ob sie ihn beschreiben könnte. Es ging alles so schnell. Sie hat nur einen ganz kurzen Blick auf ihn werfen können, mit Regen im Gesicht, wenige Sekunden, nachdem er Björn und Ossian Wallenberg getötet hatte.