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Disa begann zu essen und sprach mit vollem Mund:

»Königin Kristina bekam vom Herzog von Kurland einen Leoparden geschenkt. Sie hielt ihn hier draußen auf Djurgården.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Joona.

»Ich habe in der Buchführung des Schlosses gelesen, dass die Zahlkammer 40 Taler in Silbermünzen als Bestattungsbeihilfe für ein Mädchen zahlen musste, das der Leopard zerfleischt hatte.«

Sie lehnte sich zurück und nahm das Glas in die Hand.

»Red nicht so viel, Joona Linna.«

»Entschuldige«, sagte Joona. »Ich …«

Er verstummte und spürte plötzlich alle Energie aus seinem Körper weichen.

»Was?«

»Bitte erzähl weiter von dem Leoparden.«

»Du siehst traurig aus …«

»Ich musste gerade an Mutter denken … gestern war es genau ein Jahr her, dass sie gestorben ist. Ich bin zum Friedhof gefahren und habe eine weiße Iris auf ihr Grab gelegt.«

»Ich vermisse Ritva sehr«, sagte Disa.

Sie legte das Besteck ab und schwieg eine Weile.

»Weißt du, was sie sagte, als ich sie das letzte Mal sah? Sie nahm meine Hand«, erzählte Disa, »und dann meinte sie, dass ich dich verführen und zusehen sollte, schwanger zu werden.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen.« Joona lachte.

Die Sonne leuchtete in den Gläsern und spielte in Disas eigentümlichen dunklen Augen.

»Ich habe ihr geantwortet, ich würde nicht glauben, dass das funktionieren könnte, und daraufhin meinte sie, ich solle weggehen und mich niemals umsehen, niemals zurückkommen.«

Er nickte, wusste aber nicht, was er dazu sagen sollte.

»Dann wärst du ganz allein«, fuhr Disa fort. »Ein großer, einsamer Finne.«

Er streichelte ihre Finger.

»Das will ich nicht.«

»Was?«

»Ich will kein großer, einsamer Finne sein«, sagte er sanft. »Ich will mit dir zusammen sein.«

»Und ich will dich beißen, ziemlich fest sogar. Kannst du mir das erklären? Wenn ich dich sehe, fangen meine Zähne an zu kribbeln.«

Joona streckte die Hand aus, um sie zu berühren. Er wusste, dass er zu spät zu seiner Besprechung mit Carlos Eliasson und der Landesmordkommission kommen würde, blieb aber dennoch bei Disa sitzen, plauderte mit ihr und dachte gleichzeitig daran, dass er noch ins Nordische Museum gehen würde, um sich die samische Brautkrone anzusehen.

Während sie auf Joona Linna warteten, hatte Carlos Eliasson der Landesmordkommission von der jungen Frau erzählt, die man tot auf einem Motorboot in den Stockholmer Schären gefunden hatte. Im Protokoll hielt Benny Rubin fest, dass die Ermittlungen keine Eile erforderten und man die Untersuchung der Wasserschutzpolizei abwarten würde.

Joona kam ein bisschen zu spät, und die Besprechung hatte kaum begonnen, als auch schon John Bengtsson von der Schutzpolizei anrief. Die beiden kannten sich seit vielen Jahren und spielten seit über einem Jahrzehnt Hallenbandy gegeneinander. John Bengtsson war ein sympathischer Mann, aber als bei ihm Prostatakrebs diagnostiziert wurde, verkrümelten sich die meisten seiner Freunde. Mittlerweile war John Bengtsson zwar wieder kerngesund, aber wie viele Menschen, die einmal zu spüren bekommen haben, wie sich die Übermacht des Todes vor ihnen auftürmt, hatte er etwas Zerbrechliches, Zauderndes.

Joona stand im Korridor vor dem Besprechungszimmer und lauschte John Bengtssons bedächtigen Worten. Die Stimme des Polizeibeamten war von jener jähen Müdigkeit erfüllt, die sich in den Minuten nach starkem Stress einstellt. Er beschrieb, wie er unmittelbar zuvor den Generaldirektor der Staatlichen Waffenkontrollbehörde in seiner Wohnung erhängt aufgefunden hatte.

»Selbstmord?«, erkundigte sich Joona.

»Nein.«

»Mord?«

»Kannst du nicht einfach herkommen?«, fragte John. »Was ich sehe, passt irgendwie nicht zusammen. Der Körper schwebt über dem Fußboden, Joona.«

Gemeinsam mit Nathan Pollock und Tommy Kofoed hatte Joona soeben konstatiert, dass es sich um einen Selbstmord handelte, als es an der Tür von Palmcronas Wohnung klingelte. Im Zwielicht auf dem Treppenabsatz stand eine große Frau mit Lebensmitteltüten in ihren breiten Händen.

»Haben Sie ihn heruntergeholt?«, fragte sie.

»Heruntergeholt?«, wiederholte Joona.

»Direktor Palmcrona«, erwiderte sie.

»Was meinen Sie mit herunterholen?«

»Ich bitte um Entschuldigung, ich bin nur die Haushälterin, ich dachte …«

Die Situation machte sie verlegen, und sie begann, die Treppe hinunterzugehen, blieb jedoch abrupt stehen, als Joona ihre Frage beantwortete:

»Er hängt noch.«

»Ja«, hatte sie gesagt und ihn mit einem vollkommen ausdruckslosen Gesicht angesehen.

»Haben Sie ihn heute dort hängen sehen?«

»Nein«, antwortete sie.

»Was hat sie dann veranlasst, mich zu fragen, ob wir ihn heruntergeholt haben? Ist etwas passiert? Haben Sie etwas Besonderes gesehen?«

»Eine Schlinge, die von einem Lampenhaken im kleinen Salon herabhing«, lautete ihre Antwort.

»Sie haben die Schlinge gesehen?«

»Selbstverständlich.«

»Hatten Sie denn nicht die Befürchtung, dass er sie benutzen könnte?«, fragte Joona.

»Sterben ist kein Albtraum«, antwortete sie mit einem zurückhaltenden Lächeln.

»Was haben Sie gesagt?«

Die Frau hatte nur den Kopf geschüttelt.

»Was denken Sie, wie ist er gestorben?«, fragte Joona sie daraufhin.

»Ich denke mir, dass sich die Schlinge um seinen Hals zuzog«, antwortete sie leise.

»Und wie kam die Schlinge um seinen Hals?«

»Ich weiß nicht … vielleicht brauchte sie Hilfe«, meinte sie fragend.

»Was meinen Sie mit Hilfe?«

Ihre Augen rollten nach hinten, und Joona dachte schon, dass sie ohnmächtig werden würde, aber dann stützte sie sich mit der Hand an der Wand ab und begegnete von Neuem seinem Blick.

»Man findet überall hilfsbereite Menschen«, sagte sie schwach.

8

Åhlén

Das Schwimmbad des Landespolizeiamts ist still und leer, hinter der Glaswand ist es ruhig, und in der Cafeteria sitzen keine Gäste. Das Wasser in dem großen blauen Becken ist fast spiegelglatt. Das Licht der Unterwasserlampen, die das Becken von unten beleuchten, schaukelt langsam auf Wänden und Decke. Joona Linna schwimmt eine Bahn nach der anderen, hält sein Tempo und kontrolliert den Rhythmus seiner Atemzüge.

Er schwimmt, während verschiedene Erinnerungen durch sein Bewusstsein taumeln, zum Beispiel Disas Gesicht, als sie meinte, ihre Zähne würden kribbeln, wenn sie ihn sehe.

Joona erreicht den Beckenrand, wendet unter Wasser und stößt sich mit den Beinen ab. Es ist ihm nicht bewusst, dass er schneller schwimmt, als er sich in Gedanken plötzlich in Carl Palmcronas Wohnung in der Grevgatan befindet. Erneut betrachtet er den hängenden Körper, die Urinpfütze, die Fliegen im Gesicht. Der Tote hatte Mantel und Schuhe angehabt, sich aber trotzdem die Zeit genommen, Musik anzustellen.

Das Ganze hatte Joona das Gefühl einer zugleich geplanten und spontanen Tat vermittelt, eine bei Selbstmord keineswegs ungewöhnliche Mischung.

Er schwimmt schneller, wendet, erhöht weiter die Schlagzahl und lässt innerlich Revue passieren, wie er durch Palmcronas Flur geht und nach dem Klingeln die Tür öffnete, woraufhin er die hoch aufgeschossene Frau mit den großen Händen erblickt, die hinter der Tür im Dämmerlicht des Treppenabsatzes steht.

Joona macht am Beckenrand heftig atmend Pause und legt seine Arme auf das Plastikgitter, das die Überlaufrinne abdeckt. Seine Atemzüge beruhigen sich schnell, aber die Schwere in den Schultermuskeln, die von der Milchsäure kommt, nimmt noch zu. Eine Gruppe von Polizisten in Trainingsanzügen betritt das Schwimmbad. Die Beamten haben zwei Rettungspuppen, eine Kinder- und eine Übergewichtpuppe, dabei.

»Sterben ist kein Albtraum«, hatte die große Frau gesagt und dabei gelächelt.

Seltsam gestresst steigt Joona aus dem Becken. Er weiß nicht, was es ist, aber Carl Palmcronas Tod lässt ihm keine Ruhe. Aus irgendeinem Grund sieht er immer noch den leeren, hellen Raum vor sich. Hört die ruhige Geigenmusik in Kombination mit dem trägen Surren der Fliegen.