In einem Waschbecken liegen sieben Magazine und eine Pistole der Marke Heckler & Koch. Hinter einem der Toilettensitze in einer anderen Kabine liegt der leere Rucksack des Mannes aus grobem schwarzem Nylonstoff.
Überall ertönen die Rufe ängstlicher Stimmen und schnelle Kommandos. Karl Mann kommt mit den Rettungssanitätern zur Herrentoilette.
»Ich möchte, dass ihn jemand bewacht«, sagt Joona und deutet auf den Killer, als die Sanitäter den Körper auf eine Trage heben und festschnallen.
»Er stirbt, noch bevor der Krankenwagen die Klinik erreicht«, antwortet Karl Mann und hustet in seine Hand.
»Ich möchte trotzdem, dass Sie ihn bewachen, solange er sich auf dem Botschaftsgelände befindet.«
Karl Mann begegnet Joonas Blick und befiehlt anschließend einem seiner Männer, den Gefangenen zu bewachen und der schwedischen Polizei zu übergeben.
Dicker schwarzer Rauch treibt im Korridor, es donnert und knirscht. Menschen schreien und husten. Alle eilen geduckt und mit ängstlichen Gesichtern ins Freie. Karl Mann wird über Funk gerufen, geht unter dem Rauch in die Hocke und spricht kurz.
»Es fehlt noch jemand, der sich eigentlich hier oben aufhalten müsste«, sagt er und hustet.
Joona macht einen großen Schritt über eine Tür, die auf dem Boden liegt, geht zu einer der anderen Türen und legt die Hand auf die Klinke. Das Licht flackert und geht aus. Nur der flackernde Lichtschein des Feuers spielt in dem rauchigen Korridor, Funken wirbeln aus einer Türöffnung.
Es knistert und grollt laut, es knallt und knirscht wie Metall, das verbogen und zerrissen wird.
Joona begegnet Karl Manns Blick und bittet ihn mit einer Geste, zurückzutreten. Er zieht seine Pistole, öffnet die Tür einige Zentimeter, weicht zur Seite, wartet einen Moment und blickt dann in die Dunkelheit hinein.
Er sieht nichts außer den schwarzen Silhouetten von Büromöbeln vor heruntergelassenen Jalousien. Eine schwache Luftbewegung am Fußboden veranlasst Joona, sich aus der Schusslinie zu bewegen.
»Verlassen Sie das Gebäude«, ruft jemand hinter ihm.
Joona dreht sich um und sieht vier Feuerwehrmänner durch den Flur eilen, sich verteilen und systematisch die Räume durchsuchen.
Ehe Joona sie warnen kann, richtet einer der Männer seine helle Taschenlampe in das Zimmer. Zwei Augen leuchten auf, und ein Labrador bellt müde.
»Wir übernehmen«, sagt einer der Männer. »Schafft ihr es alleine ins Freie?«
»Eine Person wird noch vermisst«, erwidert Karl Mann.
»Seien Sie vorsichtig«, sagt Joona und sieht dem jungen Feuerwehrmann in die Augen.
»Kommen Sie«, ruft Karl Mann ihm zu.
»Ich will mir nur noch etwas ansehen.«
Joona hustet, kehrt nochmals in die Herrentoilette zurück, sieht das Blut auf Boden und Wänden, eilt zu einer der Kabinen und greift sich den schwarzen Rucksack des Killers.
85
Die Jagd der Gejagten
Penelope hat zittrige Beine, eine Hand hat sie auf den Zaun gelegt und den Blick gesenkt. Sie muss gegen den Impuls ankämpfen, sich zu übergeben. Das Bild aus der Herrentoilette wabert vor ihren Augen. Das weggesprengte Gesicht, die Zähne und das Blut.
Das Gewicht der Schutzweste weckt in ihr den Wunsch, sich einfach auf die Erde zu setzen. Die Geräusche in ihrer Umgebung kehren in Wellen zurück. Sie hört die heulenden Sirenen des zweiten Krankenwagens. Polizisten schreien sich an, sprechen sich über Funk ab. Sie sieht die Rettungssanitäter mit einer Trage aus dem Haus laufen. Es ist der Mann aus der Herrentoilette. Sein Gesicht ist verbunden worden, aber das Blut dringt durch die Kompressen.
Begleitet von einer Krankenschwester geht Saga auf Penelope zu und teilt ihr mit, sie habe das Gefühl, Penelope stehe wieder unter Schock.
»Das war er nicht«, sagt Penelope unter Tränen, als die beiden Frauen eine Decke um sie legen.
»Der Arzt kommt gleich und kümmert sich um Sie«, sagt die Krankenschwester, »aber ich kann Ihnen vorab schon einmal etwas Beruhigendes geben. Ist Ihre Leber erkrankt?«
Als Penelope den Kopf schüttelt, gibt die Krankenschwester ihr eine blaue Kapsel.
»Sie muss im Ganzen geschluckt werden … Es ist ein halbes Milligramm Xanor«, erläutert sie.
»Xanor«, wiederholt Penelope und betrachtet das Medikament in ihrer Hand.
»Es wirkt beruhigend und ist völlig unbedenklich«, beteuert die Krankenschwester und eilt davon.
»Ich hole Wasser«, meint Saga und geht zu einem Einsatzwagen.
Penelope hat kalte Finger. Sie schaut auf ihre Hand und die kleine blaue Kapsel hinab.
Joona Linna ist noch im Gebäude. Die Helfer kommen mit immer neuen, rußbedeckten und hustenden Menschen aus der Botschaft. Die geschockten Diplomaten sammeln sich am Zaun zur japanischen Botschaft und warten darauf, ins Karolinska-Krankenhaus gebracht zu werden. Eine Frau in einem dunkelblauen Rock und einer Strickjacke sinkt zu Boden und weint hemmungslos. Eine Polizistin setzt sich zu ihr, legt den Arm um sie und spricht beruhigend auf sie ein. Einer der Diplomaten leckt sich die Lippen und wischt seine Hände immer wieder an einem Handtuch ab, als wollten sie einfach nicht sauber werden. Ein älterer Mann in einem knittrigen Anzug telefoniert mit starrem Gesicht. Der Militärattaché, eine Frau mittleren Alters mit rot gefärbten Haaren, hat ihre Tränen fortgewischt und versucht, schlafwandlerisch zu helfen. Den Blick nach innen gekehrt hält sie einen Beutel mit Blutersatz, während Rettungssanitäter einen Patienten umbetten.
Ein Mann mit verbundenen Brandwunden an den Händen, der gerade eben noch mit einer Decke um die Schultern auf dem Boden saß und die Hände vors Gesicht gelegt hatte, steht auf. Die Decke ist zu Boden gefallen, und er geht langsam am Zaun entlang den asphaltierten Weg hinauf.
Ein Militärpolizist hat eine Hand um einen Fahnenmast gelegt und weint.
Der Mann mit den verbrannten Händen geht im klaren Morgenlicht weiter, biegt um die Ecke und rechts in die Gärdesgatan.
Penelope ringt plötzlich nach Luft. Wie eine Injektion mit eiskaltem Wasser schießt eine beängstigende Erkenntnis durch ihren Körper. Sie hat zwar sein Gesicht nicht gesehen, wohl aber seinen Rücken. Der Mann mit den verletzten Händen. Sie weiß, dass er ihr Verfolger ist, der Mann, der soeben zu jener großen, unbebauten Grünfläche am Rand der Stockholmer Innenstadt geht, die Gärdet genannt wird, der soeben von den Polizisten und Krankenwagen fortschlendert. Sie braucht sein Gesicht nicht zu sehen, denn sie hat seinen Rücken und Nacken schon einmal gesehen, unter der Skurusunds-Brücke, als Viola und Björn noch lebten.
Penelope öffnet ihre Hand und lässt die blaue Kapsel fallen.
Mit pochendem Herzen folgt sie ihm, biegt in die Gärdesgatan ein, lässt die Decke fallen, genau wie er es getan hat, und beschleunigt ihre Schritte. Als sie ihn mit müden Bewegungen zwischen die Bäume des Wäldchens direkt vor ihr eilen sieht, läuft sie los. Er wirkt schwach, leidet vermutlich unter dem Blutverlust durch die Schussverletzung an seiner Schulter, sie weiß, dass er ihr nicht davonlaufen können wird. Krähen heben von den Baumwipfeln ab und flattern davon. Penelope erreicht die Bäume, ist voller Kraft, geht mit großen Schritten durchs Gras und sieht ihn fünfzig Meter vor sich. Er stolpert und stützt sich mit einer Hand an einem Baumstamm ab. Eine Kompresse löst sich und hängt locker um seine Finger. Sie läuft ihm hinterher und sieht ihn das kleine Wäldchen verlassen und ins Sonnenlicht auf der weiten Grasfläche humpeln. Ohne stehen zu bleiben, zieht sie die Pistole, die Joona Linna an ihrem Rücken platziert hat, sieht sie an, entsichert sie, läuft zwischen den Bäumen weiter, wird langsamer und zielt mit ausgestrecktem Arm auf seine Beine.
»Stehen bleiben«, flüstert sie und drückt ab.