Der Schuss löst sich, der Rückstoß fährt durch Arm und Schulter, Pulverspritzer brennen auf ihrem Handrücken.
Die Kugel verschwindet im Nichts, und Penelope sieht, dass der Verfolger versucht, schneller zu laufen.
Du hättest meine Schwester nicht anrühren sollen, denkt sie.
Der Mann überquert einen Fußweg, bleibt stehen, hält sich die Schulter und eilt anschließend weiter über das Gras.
Penelope läuft, gelangt in die Sonne hinaus, überquert denselben Fußweg, den der Mann kurz zuvor hinter sich gelassen hat, und hebt erneut die Waffe.
»Stehen bleiben«, ruft sie.
Sie schießt und sieht die Kugel zehn Meter vor ihm die Grasnarbe aufreißen. Penelope spürt das Adrenalin in ihren Adern, ist vollkommen klar und konzentriert. Sie zielt auf seine Beine und schießt. Sie hört den Knall, spürt den Rückstoß und sieht die Kugel in seine Kniekehle eintreten und durch die Kniescheibe austreten. Er schreit vor Schmerz auf und fällt ins Gras, versucht weiterzukommen, aber sie nähert sich ihm, eilt mit großen Sätzen auf ihn zu und sieht ihn zu einer einsamen Birke kriechen.
Bleib stehen, denkt Penelope und hebt erneut die Pistole. Du hast Viola getötet, du hast sie in einem Zuber ertränkt, und du hast Björn getötet.
»Du hast meine kleine Schwester ermordet«, wiederholt sie laut und schießt.
Der Schuss trifft seinen linken Fuß, Blut spritzt ins Gras.
Als Penelope ihn erreicht, sitzt er mit dem Rücken an den Baum gelehnt, sein Kopf hängt herab, das Kinn ruht auf der Brust. Er blutet stark, atmet keuchend wie ein Tier, bleibt ansonsten jedoch stumm.
Sie bleibt im Schatten unter dem Baum breitbeinig vor ihm stehen und zielt mit der Pistole auf ihn.
»Warum?«, fragt sie leise. »Warum ist meine Schwester tot, warum ist …«
Sie verstummt, schluckt, beugt sich vor und fällt vor ihm auf die Knie, um sein Gesicht zu sehen.
»Ich will, dass du mich ansiehst, wenn ich schieße.«
Der Mann befeuchtet seinen Mund und versucht, den Kopf zu heben. Er ist zu schwer, es geht nicht. Wegen des Blutverlusts wird er jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Sie zielt mit der Pistole auf ihn, hält erneut inne, streckt die andere Hand aus, hebt sein Kinn und betrachtet ihn. Sie muss die Zähne zusammenbeißen, als sie die müden Züge wiedersieht, das Gesicht, das sie durch den Regen auf Kymmendö gesehen hat. Jetzt entsinnt sie sich auch wieder seiner ruhigen Augen und der tiefen Narbe über dem Mund. In diesem Moment ist er genauso ruhig wie damals. Penelope denkt noch, wie seltsam es ist, dass er nicht die geringste Angst vor ihr zeigt, als er sie plötzlich angreift. Er bewegt sich überraschend schnell, bekommt ihre Haare zu fassen und reißt Penelope an sich. Es ist so viel Kraft in seinem Arm, dass sie nach vorn fällt und mit der Stirn gegen seine Brust stößt. Ehe sie sich bewegen kann, greift er um, packt ihr Handgelenk und entwindet ihr die Waffe. Mit aller Kraft stößt sie sich mit den Armen ab und strampelt, fällt im Gras nach hinten, und als sie wieder aufblickt, zielt er schon auf sie und feuert kurz hintereinander zwei Schüsse ab.
86
Der weiße Stamm der Birke
Erst als Kriminalkommissar Joona Linna aus dem Treppenhaus der Botschaft kommt und im Erdgeschoss durch den Flur eilt, spürt er die Belastung der Lunge und das Brennen in den Augen. Er muss an die frische Luft, muss atmen. Er hustet, stützt sich an der Wand ab, geht trotzdem weiter. Aus der oberen Etage ist eine neuerliche Explosion zu hören, eine Deckenlampe löst sich und fällt vor ihm zu Boden. Er hört die Sirenen der Einsatzfahrzeuge. Mit schnellen Schritten geht er das letzte Stück zum Haupteingang der Botschaft. Auf dem asphaltierten Platz vor der Tür stehen sechs deutsche Militärpolizisten. Sie bewachen die provisorische Sicherheitskontrolle. Joona saugt die frische Luft in seine Lunge ein, hustet und schaut sich um. Zwei Löschzüge haben ihre Leitern ausgefahren. Vor den Toren wimmelt es von Polizisten und Sanitätern. Karl Mann liegt auf dem Rasen, ein Arzt beugt sich über ihn und hört seine Lunge ab. Penelope Fernandez geht mit einer Decke um die Schultern am Zaun zur japanischen Botschaft entlang.
In letzter Sekunde war Joona noch einmal in die Herrentoilette zurückgekehrt und hatte den Rucksack an sich genommen, der in einer der Toiletten hinter den Spülkasten gepresst worden war. Es war bloß ein spontaner Einfall gewesen. Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf, warum der Killer einen leeren Rucksack verstecken wollte, obwohl er Pistole und Magazine deutlich sichtbar in einem Waschbecken zurückließ.
Er hustet erneut, öffnet den Rucksack aus grobem Nylon und schaut hinein. Die Tasche ist doch nicht völlig leer. Sie enthält drei verschiedene Pässe und ein kurzes Kampfmesser mit frischem Blut an der Klinge.
»Auf wen hast du eingestochen?«, fragt Joona sich.
Er wirft noch einen Blick auf das Messer, die weiße Klinge aus gesintertem Metallpulver, das gerinnende Blut und lässt anschließend den Blick ein weiteres Mal über das Gelände schweifen, über die Krankenwagen und die Menschen jenseits der Tore zur Botschaft. Eine Frau mit verbranntem Kleid liegt auf einer Trage und hält die Hand einer anderen Frau.
Ein älterer Mann mit Rußflecken auf der Stirn spricht mit vollkommen leeren Augen in ein Telefon.
Joona erkennt seinen Irrtum, lässt den Rucksack und das blutige Messer fallen, läuft zum Tor, schreit dem Wachmann zu, dass er ihn hinauslassen soll.
Er verlässt das Botschaftsgelände, eilt an einigen Kollegen vorbei, setzt über das Plastikband, mit dem das Gelände weiträumig abgesperrt worden ist, zwängt sich wortlos an den Journalisten vorbei und rennt auf die Straße. Er stellt sich direkt vor den gelben Krankenwagen, der gerade abfahren will.
»Haben Sie die Wunde am Arm schon untersucht?«, ruft er und hält seinen Dienstausweis hoch.
»Was sagen Sie?«, fragt der Fahrer.
»Der Patient, der durch die Bombe verletzt wurde, hat eine Wunde an der Schulter, und ich …«
»Die ist angesichts seiner sonstigen Verletzungen nun wirklich nicht …«
»Ich muss die Wunde sehen«, unterbricht Joona ihn.
Der Krankenwagenfahrer will erneut protestieren, aber etwas in Joonas Stimme bewirkt, dass er es sich anders überlegt. Joona geht um den Wagen herum, öffnet die hinteren Türen. Das Gesicht des Mannes ist vollständig von Kompressen bedeckt, ein Sauerstoffschlauch führt in die Nase, aus seinem Mund wird Schleim abgesaugt. Einer der Rettungssanitäter schneidet hastig die schwarze Jacke und das Hemd des Patienten auf und entblößt die Schulterwunde.
Es ist keine Schussverletzung, die Wunde rührt eindeutig von einem Messer her, es handelt sich um eine tiefe Stichwunde.
Joona verlässt den Krankenwagen, sucht schnell das Gelände ab und begegnet Sagas Blick zwischen all den Menschen und Autos. Sie hält einen Plastikbecher mit Wasser in der Hand, aber als sie seine Augen sieht, wirft sie den Becher fort und läuft zu ihm.
»Er entkommt uns wieder«, sagt er zu sich selbst. »Er darf uns einfach nicht noch einmal entkommen.«
Joona schaut sich um, denkt daran, dass er eben, als er aus der Botschaft herauslief, Penelope Fernandez am Zaun zur japanischen Botschaft vorbeigehen sah, sie hatte eine Decke um die Schultern gelegt und bog in die Gärdesgatan ein.
»Hol ein Gewehr«, ruft Joona Saga zu und läuft los.
Er folgt dem Zaun, biegt rechts ab, hält Ausschau, sieht aber weder Penelope noch den Killer.
Eine Frau lässt ihre schlanken Dalmatiner auf der Grasfläche hinter dem Italienischen Kulturinstitut frei herumlaufen.
Hinter ihm ruft Saga etwas, aber er versteht sie nicht, sein Herz schlägt zu schnell, in seinem Kopf rauscht es. Er wird noch einmal schneller, läuft auf ein kleines Waldstück zu und hört plötzlich einen Pistolenschuss. Er stolpert in einen Graben hinunter, eilt eine Böschung hinauf und rennt zwischen die Bäume.
Weitere Pistolenschüsse werden abgefeuert, es knallt kurz und schneidend.
Joona wirft sich durch dichtes Unterholz und gelangt auf das sonnenbeschienene Brachland hinaus. Dreihundert Meter vor sich sieht er Penelope unter einer Birke, sie bewegt sich langsam. Ein Mann sitzt mit hängendem Kopf an den Stamm gelehnt. Penelope hockt vor ihm, aber plötzlich passiert etwas. Sie wird erst nach vorn gerissen und fällt danach nach hinten. Der Mann richtet eine Pistole auf sie. Im Laufen hebt Joona seine Waffe und zielt auf ihn, aber er ist viel zu weit weg. Er bleibt stehen und hält seine Pistole mit beiden Händen, als der Killer Penelope zweimal in die Brust schießt. Sie wird zurückgeworfen und bleibt auf dem Rücken liegen. Der Mörder ist erschöpft, richtet aber trotzdem erneut die Waffe auf sie. Joona feuert einen Schuss ab, trifft aber nicht. Er läuft weiter und sieht Penelope mit den Beinen strampeln, um fortzukommen. Der Killer schaut zu Joona hinüber, wendet sich dann jedoch erneut Penelope zu. Er sieht ihr in die Augen und zielt mit der Pistole auf ihr Gesicht. Ein Schuss wird abgefeuert. Joona hört hinter sich einen lauten Knall. Neben seinem rechten Ohr pfeift es, und in derselben Sekunde spritzt eine Kaskade von Blut aus dem Rücken des Killers. Das Blut schlägt gegen den weißen Stamm der Birke. Das Vollmantelgeschoss hat Brustbein und Herz des Mannes durchschlagen. Joona läuft weiter, zielt immer noch auf ihn. Es fällt ein zweiter Schuss, und Joona sieht den bereits toten Mann kurz zucken, als die Kugel nur einen Zentimeter über der ersten Eintrittswunde in seiner Brust einschlägt. Joona lässt die Pistole sinken, dreht sich um und sieht Saga Bauer mit einem Präzisionsgewehr im Anschlag am Waldsaum stehen. Ihre Haare schimmern in den Sonnenstrahlen, die durchs Laub fallen, und ihr Gesicht bleibt konzentriert, als sie das Gewehr senkt.