»Wer war er?«, fragt Penelope. »Wer war der Mann, der mich gejagt hat?«
»Ein Profikiller«, antwortet Joona.
»Weder bei Europol noch bei Interpol liegt etwas über ihn vor«, bemerkt Saga.
»Ein Profikiller«, wiederholt Penelope langsam. »Dann hat ihn also jemand beauftragt?«
»Ja«, antwortet Saga. »Das steht außer Frage, aber wir werden keine Verbindung zu seinem Auftraggeber finden können.«
»Raphael Guidi?«, fragt Penelope leise. »War er es? Oder Agathe al-Haji?«
»Wir denken, dass es Raphael Guidi gewesen ist«, meint Saga. »Denn für Agathe al-Haji spielt es im Grunde keine Rolle, ob Sie als Zeugin aussagen, dass sie versucht, Munition zu kaufen …«
»Es ist ja kein Geheimnis, was sie da treibt«, ergänzt Joona.
»Dann hat also Raphael Guidi einen Mörder geschickt, aber … was will er? Wissen Sie das? Geht es bei dem allen nur um das Foto?«
»Raphael Guidi glaubt vermutlich, dass Sie die Fotografin sind, er glaubt, dass Sie eine Zeugin sind und Dinge gesehen und gehört haben, die ihn entlarven könnten.«
»Glaubt er das immer noch?«
»Wahrscheinlich.«
»Dann wird er einen neuen Mörder schicken?«
»Das befürchten wir«, antwortet Saga.
»Wie lange werde ich unter Polizeischutz stehen, bekomme ich eine neue Identität?«
»Wir werden die Sache noch durchsprechen müssen, aber …«
»Man wird mich jagen, bis ich nicht mehr die Kraft habe weiterzulaufen«, sagt Penelope.
Sie kommen am Nobelkaufhaus NK vorbei und sehen drei Jugendliche, die vor dem eleganten Haupteingang in einen Sitzstreik getreten sind.
»Er wird nicht aufgeben«, bestätigt Joona. »Deshalb müssen wir das Geschäft auffliegen lassen, denn wenn uns das gelingt, gibt es für ihn keinen Grund mehr, Sie zu verfolgen.«
»An Raphael Guidi kommen wir nicht heran, das ist uns bewusst«, sagt Saga. »Aber hier in Schweden können wir verdammt viel tun, und das werden wir ihn spüren lassen …«
»Was denn?«
»Als Erstes werden wir das Geschäft stoppen«, erklärt Saga. »Denn ohne Axel Riessens Ausfuhrgenehmigung wird das Containerschiff den Hafen von Göteborg nicht verlassen.«
»Und was macht Sie so sicher, dass er die Papiere nicht unterzeichnen wird?«
»Das würde er niemals tun«, antwortet Joona. »Weil er genauso viel über die Sache weiß wie wir.«
»Gut«, flüstert Penelope.
»Wir stoppen das Geschäft, und als Nächstes schnappen wir uns Pontus Salman und alle anderen, die in die Sache verwickelt sind«, meint Saga.
Es wird still im Auto.
»Ich muss meine Mutter anrufen«, sagt Penelope nach einer Weile.
»Nehmen Sie mein Handy.«
Penelope nimmt Sagas Handy, scheint zu zögern, wählt dann jedoch eine Nummer und wartet.
»Hallo Mama, ich bin’s, Penny. Dieser Mann, der …«
»Penny, es klingelt gerade an der Tür, ich muss …«
»Mama, warte«, unterbricht Penelope sie gestresst. »Wer klingelt denn jetzt bei dir?«
»Keine Ahnung, wieso?«
»Erwartest du jemanden?«
»Nein, aber …«
»Du darfst die Tür nicht aufmachen«, unterbricht Penelope sie.
Ihre Mutter sagt etwas und legt das Telefon fort. Penelope hört ihre Schritte auf dem Fußboden und dass es noch einmal klingelt. Die Tür wird geöffnet, und sie hört Stimmen. Penelope weiß nicht, was sie tun soll. Sie sieht Saga und Joona an, die sie aufmerksam beobachten. Es knistert in der Leitung und hallt seltsam, dann hört man erneut die Stimme ihrer Mutter.
»Bist du noch da, Penny?«
»Ja.«
»Hier ist jemand, der dich sprechen möchte«, sagt ihre Mutter.
»Der mich sprechen möchte?«
Penelope befeuchtet ihre Lippen.
»Okay, Mama. Gib das Telefon weiter.«
Es knistert in der Leitung, dann hört Penelope eine Frau ihren Namen sagen.
»Penelope Fernandez?«
»Ja«, antwortet sie.
»Wir müssen uns treffen.«
»Mit wem spreche ich?«, erkundigt sich Penelope.
»Ich habe Ihnen das Foto geschickt.«
»Ich habe kein Foto bekommen«, antwortet Penelope.
»Gute Antwort«, entgegnet die Frau. »Wir kennen uns nicht, aber ich bin diejenige gewesen, die Ihnen das Foto geschickt hat.«
Penelope schweigt.
»Ich muss Sie noch heute treffen, so schnell wie möglich«, fährt die Frau fort. »Ich habe Ihnen ein Bild von vier Personen in einer Loge geschickt, ich habe das Foto heimlich am dreizehnten November 2009 gemacht. Eine der vier Personen darauf ist mein Mann, Pontus Salman.«
89
Das Treffen
Pontus Salmans Haus steht im Roskullsvägen auf der Insel Lidingö vor den Toren Stockholms. Es ist eine Villa aus den Sechzigerjahren, die zwar etwas in die Jahre gekommen ist, aber noch zeittypische Qualität ausstrahlt. Sie parken in der gepflasterten Garagenauffahrt und steigen aus. Jemand hat mit Kreide einen kindlichen, stilisierten Penis auf das große Garagentor gemalt.
Sie einigen sich darauf, dass Joona mit Penelope im Auto warten wird, während Saga zum Eingang geht. Die Tür steht offen, aber Saga betätigt trotzdem die große Klingel in Form eines Löwenhaupts. Ein harmonischer Dreiklang ertönte aber es passiert nichts. Saga zieht ihre Glock, kontrolliert das Magazin, entsichert die Pistole, klingelt ein zweites Mal und betritt das Haus.
Es ist ein Souterrainhaus, und hinter dem Eingangsflur öffnet sich ein großer Wohnraum mit Küchenbereich und Esszimmer. Durch hohe Fensterfronten hat man eine hinreißende Aussicht auf den Sund vor Lidingö.
Saga durchquert die Küche, geht die Treppe hinunter und hört auf einmal Musik hinter einer Tür, an der die Buchstaben R & R auf einem Messingschild prangen. Sie öffnet die Tür, woraufhin die Musik deutlicher zu hören ist, es ist Verdis Oper »La Traviata« mit Joan Sutherland. Am Ende eines gekachelten Korridors erblickt sie das bläulich glitzernde Schimmern eines beleuchteten Schwimmbeckens.
Saga schleicht sich näher heran, versucht, hinter der Musik etwas zu hören. Sie erahnt Schritte, nackte Füße auf nassem Klinker.
Sie hält ihre Waffe verdeckt am Körper, geht weiter, sieht schemenhaft Rohrmöbel und Palmenblätter. Die Luft ist warm und feucht. Es riecht immer intensiver nach Chlor und Jasmin. Sie erreicht ein großes Becken aus hellblauen Kacheln mit einer Glasfront zum Garten und zum Wasser des Sunds. Eine schlanke Frau von etwa fünfzig Jahren steht in einem goldenen Badeanzug und mit einem Glas Weißwein in der Hand an einer Theke. Als sie Saga sieht, stellt sie das Glas ab und geht ihr entgegen.
»Hallo, ich heiße Saga Bauer.«
»Welche Agentur?«
»Staatsschutz.«
Lachend küsst die Frau Sagas Wangen und stellt sich anschließend als Marie-Louise Salman vor.
»Haben Sie einen Badeanzug dabei?«, fragt sie und kehrt zur Bar zurück.
Ihre Füße hinterlassen auf den terracottafarbenen Kacheln länglich schmale Abdrücke. Ihr Körper ist schlank, und sie wirkt durchtrainiert. Ihre Art zu gehen ist eine Demonstration, als wollte sie Saga die Chance geben, sie zu beobachten.
Marie-Louise Salman nimmt ihr Glas, dreht sich um und wirft einen neugierigen Blick auf Saga, wie um sich zu vergewissern, dass deren Augen ihr gefolgt sind.
»Ein Glas Sancerre?«, fragt sie in ihrem kühlen Tonfall.
»Nein, danke«, antwortet Saga.
»Ich schwimme, um in Form zu bleiben, auch wenn ich nicht mehr so oft als Model arbeite. Man bekommt schnell eine narzisstische Störung in dieser Branche. Nun ja, aber das wissen Sie ja selbst. Es ist ein mieses Gefühl, dass einem keiner mehr Feuer anbietet.«
Marie-Louise Salman beugt sich vor und flüstert theatralisch:
»Ich habe eine Affäre mit dem jüngsten Burschen bei Chippendales. Wissen Sie, wer das ist? Egal, die sind eh alle schwul.«
»Ich bin hier, um über ein Foto zu sprechen, dass Sie …«
»Ich wusste doch, dass er den Mund nicht halten kann«, platzt Marie-Louise Salman heraus.
»Wer?«
»Jean-Paul Gaultier.«
»Der Designer?«, fragt Saga.
»Ja, der Designer mit dem gestreiften Top, der Designer mit den goldenen Bartstoppeln und dem hässlichen kleinen Mund. Er hasst mich immer noch. Ich wusste es.«