»Warum nicht?«, fragt Joona.
»Das ist Raphael … ich weiß nicht, er … es ist so grauenvoll«, sagt sie mit zitterndem Mund. »Es gelingt ihm, allen Beteiligten zu entlocken, wie sie … wie sie sich ihren schlimmsten Albtraum vorstellen.«
»Wie bitte?«, sagt Saga.
»Das waren Pontus’ Worte, er meinte, Raphael besitze diese Fähigkeit«, antwortet Veronique Salman.
»Aber was meint er mit Albtraum?«, will Joona wissen.
»Ich habe Pontus gefragt, ob er Raphael etwas erzählt hat, natürlich habe ich ihm diese Frage gestellt«, erwidert sie mit gequältem Gesicht. »Aber er wollte mir nicht antworten, ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
Es wird still in der Bibliothek. Unter den Armen von Veronique Salmans Bluse haben sich Schweißflecken gebildet.
»Sie können Raphael Guidi nicht aufhalten«, sagt sie nach einer Weile und sieht Joona in die Augen. »Aber Sie müssen dafür sorgen, dass diese Munition niemals Darfur erreicht.«
»Das werden wir«, versichert Saga.
»Sie müssen wissen … dass die Unruhe nach der Wahl im Sudan nicht in einer Katastrophe endet, liegt vor allem daran, dass es an Munition fehlt, es … wenn der Bürgerkrieg wieder aufflammt, werden die Hilfsorganisationen Darfur verlassen.«
Veronique Salman sieht auf die Uhr, sagt an Joona gewandt, dass sie bald zum Flughafen fahren muss, geht zum Fenster und blickt verträumt durch das farbige Glas.
»Mein Freund ist tot«, sagt Penelope und wischt sich Tränen von den Wangen. »Meine Schwester ist tot, ich weiß nicht, wie viele Menschen noch.«
Veronique Salman dreht sich zu ihr um.
»Frau Fernandez, ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich hatte dieses Foto, ich dachte, wenn überhaupt jemand die Personen in der Loge erkennen würde, dann Sie. Ich dachte, dass Sie verstehen würden, was es heißt, dass Agathe al-Haji Munition kauft, Sie sind doch in Darfur gewesen, Sie haben Kontakte dort, Sie sind Friedensaktivistin und …«
»Aber Sie haben sich geirrt«, unterbricht Penelope sie. »Sie haben das Foto der Falschen geschickt, ich wusste, wer Agathe al-Haji ist, aber ich hatte keine Ahnung, wie sie aussieht.«
»Ich konnte die Aufnahme doch nicht der Polizei oder einer Zeitungsredaktion schicken, dort hätte niemand ihre Bedeutung erkannt, nicht ohne Erklärungen, und ich konnte die Umstände nicht erläutern, wie hätte ich das tun sollen, das wäre undenkbar gewesen, denn eins war mir klar, man durfte mich nicht mit dem Bild in Verbindung bringen, deshalb habe ich es Ihnen geschickt, ich wollte jede Spur davon entfernen, und ich wusste, dass ich meine Verbindung zu dem Foto niemals enthüllen durfte.«
»Trotzdem haben Sie genau das jetzt getan«, sagt Joona.
»Ja, denn ich … ich …«
»Warum?«, fragt er. »Warum haben Sie es sich anders überlegt?«
»Weil ich das Land verlasse und …«
Sie verstummt und blickt auf ihre Hände hinab.
»Was ist passiert?«
»Nichts«, antwortet sie unter Tränen.
»Sie können es uns erzählen«, sagt Joona.
»Nein, das …«
»Keine Sorge«, flüstert Saga.
Veronique Salman wischt sich die Tränen von ihren Wangen und schaut auf.
»Pontus hat mich aus unserem Sommerhaus angerufen und nur geweint und um Verzeihung gebeten, und ich weiß nicht, was er mit alldem gemeint hat, aber jedenfalls sagte er, er würde alles tun, um nicht mit ansehen zu müssen, dass sein Albtraum in Erfüllung geht.«
91
Ein letzter Ausweg
Ein Ruderboot aus lackiertem Mahagoniholz schaukelt auf dem Malmsee im Windschatten einer großen Landzunge. Aus östlicher Richtung weht eine sehr sanfte Brise, die schwachen Düngergeruch von den umliegenden Bauernhöfen übers Wasser trägt. Pontus Salman hat die Ruder hochgelegt, aber das Boot ist in einer Stunde kaum mehr als zehn Meter weit getrieben. Er denkt, wenn ihm klar gewesen wäre, dass es so lange dauern würde, sich zu erschießen, hätte er etwas zu trinken mitgenommen.
Die doppelläufige Schrotflinte liegt auf seinen Oberschenkeln.
Die einzigen Geräusche sind das Gluckern des Wassers gegen den Rumpf und das schwache Säuseln des Winds in den Laubmassen der Bäume.
Er schließt kurz die Augen, atmet einige Male, öffnet die Augen wieder und stellt den Gewehrkolben auf dem Boden ab und sorgt dafür, dass er auf dem Holz Halt findet. Seine Hand hält den sonnenwarmen Lauf, und er probiert, die Mündung auf seine Stirn zu richten.
Als er daran denkt, dass die Schrotladung ihm den ganzen Kopf abreißen wird, überkommt ihn Übelkeit.
Seine Hände zittern so sehr, dass er einen Moment warten muss. Er sammelt sich und richtet die Mündung stattdessen auf sein Herz.
Die Schwalben fliegen wieder tief, dicht über der Wasseroberfläche jagen sie Insekten.
Heute Nacht wird es wahrscheinlich regnen, denkt er.
Der weiße Kondensstreifen eines Flugzeugs zeichnet sich am Himmel ab, und Pontus Salman denkt erneut an seinen Albtraum.
Plötzlich kommt es ihm vor, als würde sich der ganze See verdunkeln, als würde das Wasser von unten geschwärzt.
Er wendet sich wieder dem Gewehr zu, nimmt den Lauf in den Mund, spürt ihn über die Zähne reiben, nimmt den metallischen Geschmack wahr.
Er streckt sich nach dem Abzughebel, als er das Motorengeräusch eines Autos hört. Das Herz rast in seiner Brust. Die unterschiedlichsten Gedanken schießen ihm binnen einer einzigen Sekunde durch den Kopf, dann wird ihm klar, dass es seine Frau sein muss, weil sie die Einzige ist, die weiß, wo er sich aufhält.
Er legt das Gewehr wieder ab, spürt das Blut schnell durch seinen Körper pulsieren und merkt, dass er zittert, während er versucht, zwischen den Bäumen am Haus etwas zu entdecken.
Ein Mann kommt den Pfad zum Bootssteg hinunter.
Pontus Salman braucht eine Weile, um zu erkennen, dass es der Kommissar ist, der in sein Büro gekommen war und ihm Veroniques Foto gezeigt hatte.
Als er Joona Linna schließlich erkennt, wallt eine völlig neue Angst in seinem Inneren auf. Sag, dass es noch nicht zu spät ist, denkt er immer wieder, während er zum Land zurückrudert. Sag, dass es nicht zu spät ist, sag, dass ich nicht mit ansehen muss, wie mein Albtraum in Erfüllung geht, sag, dass es nicht zu spät ist.
Pontus Salman rudert bis vor den Steg. Sein Gesicht ist leichenblass, und als Joona ihn bittet heraufzukommen, schüttelt er nur den Kopf. Sorgsam achtet er darauf, genügend Abstand zu halten, als er den Nachen mit umgekehrten Ruderzügen wendet, sodass der Bug seewärts zeigt.
Joona setzt sich auf die rissige, von der Sonne ausgebleichte Holzbank am äußeren Ende des Stegs. Die Wärme an Land lässt die Pflanzen dampfen, und das Wasser gluckert sanft.
»Was wollen Sie?«, fragt Pontus Salman ängstlich.
»Ich habe gerade mit Ihrer Frau gesprochen«, sagt Joona.
»Gesprochen?«
»Ja, und ich …«
»Sie haben mit Veronique gesprochen?«, fragt Pontus Salman besorgt.
»Ich brauche Antworten auf ein paar Fragen.«
»Dazu ist keine Zeit.«
»Das da eilt nicht«, erklärt Joona mit einem Blick auf die Schrotflinte im Boot.
»Was wissen Sie denn schon«, murmelt Pontus Salman.
Die Ruder bewegen sich sachte im Wasser.
»Ich weiß, dass die Munitionslieferung für Kenia in Wahrheit für den Sudan bestimmt ist«, sagt Joona.
Pontus Salman erwidert nichts.
»Ich weiß, dass Ihre Frau das Foto in der Loge gemacht hat.«
Pontus Salman hat den Blick gesenkt, hebt die tropfenden Ruder an und spürt das Wasser bis zu seinen Händen herabrinnen.