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»Ja«, antwortet Robert.

»Im Krankenhaus hat er gesagt, dass er sie umgebracht hat«, flüstert Beverly.

Robert zuckt zusammen und dreht sich erneut zu ihr um.

»Wie meinst du das?«, fragt er.

»Er hat erzählt, dass er etwas getan hat, und dann ist sie gestorben.«

Robert sieht sie mit offenem Mund an.

»Er sagt … er sagt, dass es seine Schuld war?«

»Es war seine Schuld«, fährt Beverly mit dem Kopf nickend fort. »Sie hätten nämlich Geige üben sollen, aber stattdessen haben sie miteinander geschlafen und sie hat geglaubt, dass er sie hereingelegt hat, um den Geigenwettbewerb zu gewinnen.«

»Es war nicht seine Schuld.«

»Doch«, widerspricht sie.

Robert sinkt am Steuer zusammen. Er reibt sich mehrmals mit den Händen übers Gesicht.

»Großer Gott«, flüstert Robert. »Ich muss …«

Der Wagen schert kurz aus, hinter ihm hupt jemand wütend, und Beverly wirft ihm einen besorgten Blick zu.

»Was ist los?«, fragt sie.

»Ich … ich muss ihm etwas erzählen«, fährt Robert fort und beginnt, den Wagen zu wenden. »Ich bin doch hinter der Bühne geblieben, als er spielen sollte, ich weiß, was passiert ist, Greta war vor ihm dran, sie kam zuerst zurück und …«

»Du warst dabei?«

»Warte«, unterbricht Robert sie. »Ich habe alles gehört, ich … Gretas Tod hat nichts mit Axel zu tun …«

Er ist so aufgewühlt, dass er den Wagen erneut anhalten muss, sein Gesicht ist aschfahl, als er sich Beverly zuwendet.

»Entschuldige«, flüstert er. »Aber ich muss einfach …«

»Bist du sicher?«

»Was?«, fragt er und sieht sie an.

»Bist du wirklich sicher, dass es nicht Axels Schuld war?«

»Ja«, antwortet er.

»Aber was ist dann passiert?«

Robert streicht sich Tränen aus den Augen und öffnet in Gedanken versunken die Autotür.

»Gib mir eine Sekunde, ich muss … ich muss mit ihm reden«, sagt er leise, steigt aus und stellt sich auf den Bürgersteig.

Die großen Linden am Sveavägen verbreiten staubend ihre Samen, die in der Sonne über Autos und Menschen tanzen. Auf einmal lächelt Robert in sich hinein, nimmt sein Handy und wählt Axels Nummer. Nach drei Ruftönen verschwindet sein Lächeln, und er kehrt mit dem Telefon am Ohr zum Wagen zurück. Erst als er den Anruf abbricht, um es mit Axels Handynummer zu versuchen, entdeckt er, dass das Auto leer ist, Beverly ist verschwunden. Er schaut sich um, kann sie aber nirgendwo sehen. Der Verkehr rauscht vorbei, Abiturienten fahren in offenen Wagen am Sergels torg vorbei, um ihren Schulabschluss zu feiern. Er schließt die Tür, lässt das Auto an und fährt langsam los, um nach Beverly zu suchen.

94

Raschelndes weißes Plastik

Axel Riessen weiß nicht, wie lange er am Fenster gestanden und Robert und Beverly hinterhergeschaut hat. Seine Gedanken haben sich unablässig in der Vergangenheit bewegt. Er zwingt sich, von seinen Erinnerungen abzulassen, geht stattdessen zur Musikanlage und legt die erste Seite von David Bowies Schallplatte »The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars« auf und dreht lauter.

»Pushing thru the market square …«

Dann geht Axel zur Hausbar und holt eine der teuersten Flaschen aus seiner Whiskysammlung heraus. Es ist ein Macallan aus dem ersten Kriegsjahr 1939. Er schenkt sich ein kleines Glas ein und setzt sich auf die Couch. Mit gesenktem Blick lauscht er der Musik, der jungen Stimme und dem schlampigen Klavier, und dann steigt ihm der Duft von Eichenfass, schweren Behältern und dunklem Keller, Stroh und Zitrone in die Nase. Er trinkt, und der hochprozentige Schnaps brennt auf den Lippen und füllt seinen Mund. Das Getränk hat seinen Geschmack gehütet, über Generationen, Regierungswechsel, Krieg und Waffenstillstand hinweg.

Vielleicht ist es besser so, denkt Axel, vielleicht erhält Beverly nach diesem Zwischenfall die Hilfe, die sie benötigt. Er hat die spontane Eingebung, seinen Bruder anzurufen und ihm zu sagen, dass er ihn liebt, verzieht angesichts dieses pathetischen Gedankens jedoch den Mund. Er wird sich nicht das Leben nehmen, er wird sich dem stellen, was in diesem Moment auf ihn zukommt, und versuchen, auf den Beinen zu bleiben.

Er nimmt seinen Whisky ins Schlafzimmer mit und betrachtet das ungemachte Bett. Er hört gerade noch, wie sein Handy in dem Jackett vibriert, das über einem Stuhlrücken hängt, als knarrende Schritte im Salon ihn dazu veranlassen, sich umzudrehen.

»Beverly«, sagt er erstaunt.

Ihr Gesicht ist staubig, und sie hält eine Pusteblume in der Hand.

»Ich wollte nicht mit der Polizei sprechen …«

»Wo ist Robert?«

»Zurück bin ich getrampt«, sagt sie. »War nicht schlimm, ist gut gegangen …«

»Warum tust du so was? Du hättest …«

»Sei mir nicht böse, ich habe nichts Falsches gemacht, ich muss dir nur was total Wichtiges erzählen …«

Das Telefon in seinem Jackett klingelt erneut.

»Warte mal, Beverly, ich muss kurz das Gespräch annehmen …«

Er wühlt in den Taschen, findet das Handy und meldet sich schnell.

»Axel Riessen.«

Er hört eine ferne Stimme:

»Hallo?«

»Hallo«, erwidert Axel.

»Hier spricht Raphael Guidi«, sagt die Stimme in einem dunklen, sperrigen Englisch. »Ich muss mich für die schlechte Verbindung entschuldigen, aber ich bin auf See.«

»Kein Problem«, antwortet Axel höflich und sieht, dass Beverly sich aufs Bett setzt.

»Ich werde gleich zur Sache kommen«, sagt Raphael Guidi. »Ich rufe an, um mich zu erkundigen, ob Sie schon dazu gekommen sind, die Ausfuhrgenehmigung für Kenia zu unterschreiben. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass das Containerschiff zum jetzigen Zeitpunkt bereits ausgelaufen sein würde.«

Axel hält das Telefon ans Ohr, geht in den Salon, hört aber nichts als seine eigenen Atemzüge. Er denkt an das Foto von Raphael Guidi, Carl Palmcrona, Agathe al-Haji und Pontus Salman. An Palmcrona, der sein Champagnerglas in der Hand hält und mit gebleckten Zähnen lacht.

»Sind Sie noch da?«, fragt Raphael Guidi über die knisternde Leitung.

»Ich werde diese Ausfuhrgenehmigung nicht unterschreiben«, antwortet Axel kurz, und ihm läuft ein kalter Schauer über den Rücken.

»Vielleicht kann ich Sie ja noch umstimmen«, sagt Guidi. »Sie sollten darüber nachdenken, ob ich Ihnen etwas anbieten kann, das Sie …«

»Sie haben nichts, was ich haben will.«

»Ich denke, da irren Sie sich; wenn ich einen Vertrag schließe, dann …«

Axel drückt das Gespräch fort, und es wird still. Er steckt das Handy wieder in die Jacketttasche und wird von starkem Unbehagen, einer Vorahnung, übermannt, und geht auf die Tür zu dem Flur zu, der ins Treppenhaus führt. Als er aus dem Fenster sieht, bemerkt er eine Bewegung im Park, einen durchsichtigen Schatten zwischen den Sträuchern am Haus. Axel wendet sich dem zweiten Fenster zu, sieht aber nichts. Es klirrt in der unteren Etage, als wäre in der Sonne eine kleine Glasscheibe gesprungen. Axel denkt, dass das völlig absurd ist, begreift aber trotzdem, was vorgeht. Sein Herz schlägt sehr schnell, sein Körper setzt Adrenalin frei, und er ist extrem konzentriert und bewegt sich so schnell er kann, ohne zu rennen. Er eilt zu Beverly ins Schlafzimmer zurück. Angenehmes Sonnenlicht strömt durch den Spalt zwischen den Vorhängen herein. Wie eine Wand aus grobem Glas quer durch das Zimmer und bis zu Beverlys Füßen. Sie hat sich ausgezogen und mit Dürrenmatts kurzer Novelle auf dem Bauch in das ungemachte Bett gelegt.

»Axel«, sagt sie, »ich bin hergekommen, um dir was zu erzählen …«

»Hab keine Angst«, unterbricht er sie gefasst »aber du musst dich unter dem Bett verstecken. Tu es und bleib dort mindestens eine Stunde liegen.«

Sie reagiert auf der Stelle, stellt keine Fragen, kriecht einfach unters Bett. Er hört schnelle Schritte die Treppe heraufkommen. Es müssen mindestens zwei sein, denkt er. Auf dem Sessel liegen Beverlys Jeans und T-Shirt. Er läuft hin und wirft die Kleider unters Bett. Sein Herz rast, er schaut sich um und weiß nicht, was er tun soll. Wirre Gedanken schießen ihm durch den Kopf. Er zieht sein Handy aus dem Jackett und eilt aus dem Schlafzimmer in den Salon. Hinter sich hört er Schritte, die sich im Flur zur Bibliothek bewegen. Mit zitternden Händen klappt er das Telefon auf und hört den Fußboden knarren, als jemand mit federnden Schritten läuft. Zum Telefonieren ist es zu spät. Er versucht, das Fenster zur Straße zu erreichen, um dort um Hilfe zu rufen, aber jemand packt sein rechtes Handgelenk und presst gleichzeitig etwas Kühles an seinen Hals. Er weiß nicht, dass es eine Elektroschockpistole ist. 69 000 Volt schießen in seinen Körper. Man hört ein elektrisches Knistern, aber Axel spürt nur eine Reihe kräftiger Schläge, als hämmere ihm jemand mit einem Eisenrohr gegen den Hals. Er hört nicht, dass er schreit, denn sein Gehirn erlischt und die Außenwelt verschwindet. Als er in kurzen Schüben wieder zu Bewusstsein kommt, haben die Männer bereits seinen Mund zugeklebt. Er liegt auf dem Boden, und sein Körper zuckt in Spasmen, Arme und Beine zittern. Wie einen brennenden Biss am Hals spürt er den Schmerz mit all seiner Kraft. Er kann sich nicht verteidigen, seine Muskeln sind gelähmt. Mit kraftvoller, sachlicher Schroffheit packen die beiden Männer seine Arme, Schenkel und Fußknöchel und rollen ihn in weißes Plastik ein. Es raschelt sanft, und er denkt, dass er ersticken wird, aber die Luft wird nicht knapp. Sie umwickeln ihn mit Klebeband und heben ihn anschließend hoch. Er versucht, sich zu winden, aber es ist zwecklos, er hat keine Kontrolle über seine Muskeln. Die beiden Männer tragen ihn seelenruhig die Treppe hinunter, ins Freie und in einen wartenden Transporter.