»Oh«, sagte Ista. Oh. Sie wagte es nicht, ihre Stimme brechen zu lassen. Eine Aufgabe hatte sie noch zu erfüllen. »Auch mir wurde eine Botschaft für Euch mitgegeben.«
Er wirkte verblüfft. »Seit einem Tag hat kein Kurier den jokonischen Belagerungsring durchbrochen. Was für ein Bote soll das gewesen sein?«
»Ich habe ihn gerade erst auf den Treppen getroffen. Und dies ist die Botschaft.« Ihre Stimme klang belegt, und sie schluckte.
»Euer Vater ruft Euch an seinen Hof. Ihr braucht nicht zu packen. Ihr geht, wie Ihr seid, und Euer Ruhm soll Euch kleiden. Er wartet sehnsüchtig an den Toren seines Palasts, um Euch willkommen zu heißen, und er hat einen Platz am Ehrentisch an seiner Seite vorbereitet, in der Gesellschaft der großen Seelen, der Geehrtesten und Höchstgeschätzten. So lautet die Botschaft. Neigt Euer Haupt.«
Erstaunt, mit weit aufgerissenen Augen, kam er der Aufforderung nach. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Seine blasse Haut war weder heiß noch kalt, und kein Schweiß glänzte darauf. Ihr Mund schien einen flüchtigen Kranz von Raureif zu hinterlassen, der in der schweren Nachtluft dampfte. Eine neue Linie erschien vor ihrem zweiten Gesicht, ein feiner Faden aus grauem Licht, der von ihr ausging. Das ist eine Rettungsleine. Irgendwie wusste sie, dass diese Leine sich von einem Ende der Welt zum anderen strecken konnte, ohne zu zerreißen.
Zutiefst bewegt vervollständigte sie den formellen Gruß, küsste beide Handrücken, beugte sich dann zu seinen Füßen nieder und berührte jeden seiner Stiefel mit den Lippen. Er zuckte ein wenig, als wolle er sie davon abbringen, dann aber stand er still und ließ es geschehen. Er griff ihre Hand und half ihr wieder auf die Füße. Ihre Knie fühlten sich an wie Wasser.
»Ganz gewiss sind wir gesegnet«, flüsterte er voller Ehrfurcht.
»Ja. Denn wir segnen einer den anderen. Seid getröstet. Alles wird gut.«
Sie trat zurück und ließ Illvin den Bruder umarmen. Danach hielt Illvin Arhys an den Schultern von sich und blickte mit verwirrtem Lächeln in diese seltsam jubilierenden Augen, die aus immer größerer Entfernung zu ihm zurückzublicken schienen. Auf seinen kühlen Lippen lag ein liebenswürdiges Lächeln. Illvin drehte sich um und half seinem Bruder auf den unterwürfigen roten Hengst, überprüfte ein letztes Mal dessen Sattelgurt, Steigbügel und Ausrüstung und klopfte dann in einer gewohnheitsmäßigen Geste auf Arhys’ ledergeschütztes Bein. Er trat zurück.
Ista blickte aus brennenden Augen um sich und entdeckte Liss, die neben Foix’ Pferd stand. Foix war bereits aufgesessen. Er grüßte Liss nach Art des Ordens der Tochter, indem er seine Stirn berührte. Sie antwortete mit dem Gruß der Kuriere, die Faust vors Herz gedrückt. Foix blickte Ista in die Augen und grüßte sie ebenso. Sie bedachte ihn mit dem fünffältigen Segenszeichen.
Die Männer aus Arhys’ verzweifelter kleiner Schar saßen auf seinen geflüsterten Befehl hin auf. Keiner von ihnen redete viel.
»Liss …«, stieß Ista erstickt hervor und räusperte sich. »Liss«, setzte sie erneut an. »Komm mit. Wir müssen auf den Turm.«
Liss und Illvin schlossen sich ihr an. Sie gingen zurück durch den Torbogen. Hinter sich hörte Ista, wie Porifors Tore knirschend aufschwangen. Das metallene Klirren der Ketten der Zugbrücke hallte zwischen den sterbenden Blumen wider. Illvin lief einen Moment rückwärts und starrte auf die flammendurchzogene Finsternis, doch Ista zwang sich, nicht zurückzublicken.
24
Auf schmerzenden Beinen schob Ista sich die engen Treppen zum Turm empor, tastete sich an der rauen, gerundeten Steinwand entlang, bis sie schließlich auf eine Fläche von unerwarteter Helligkeit trat. Zu Füßen der Brüstung im Norden und im Süden standen Kerzen aufgereiht, befestigt mit Tropfen ihres eigenen Wachses. In der reglos stehenden Nachtluft brannten sie hell und ohne Flackern. Die Hitze stieg in den sternübersäten Nachthimmel empor, doch alles in allem war die Luft auf dem Turm viel weniger schwer und abgestanden als im Vorhof.
Mit ihrer Ankunft schien die Plattform voll zu sein. Ista begutachtete das Arrangement, das sie angeordnet hatte, und atmete erleichtert auf. Lady Cattilara, mit einem einfachen Gewand bekleidet, lag auf der einen Seite still auf einem lakenbedeckten Strohlager. Ein weiteres Lager war neben ihr vorbereitet und ebenfalls mit abgenutztem Leinen bezogen worden. Es stand noch leer. Die Näherin mit ihrem Korb, Goram und dy Cabon, dessen Roben inzwischen völlig verdreckt waren — sie alle warteten besorgt ab. Diese kleine Gesellschaft musste ausreichen. Die wenigen Heilkundigen und Akolythen der Mutter, die in der belagerten Stadt noch am Leben waren, litten selbst unter Fieber oder Schlimmerem, und durch die eingestürzten Tunnel konnten sie ohnehin nicht in die Burg gebracht werden.
Illvin trat aus dem finsteren Treppenhaus und schirmte die Augen gegen den Kerzenschein ab. »Majestät, könnt Ihr so überhaupt Ausschau halten und das Vorankommen meines Bruders verfolgen?«
»Ich werde nicht diese Augen gebrauchen. Und Eure Pfleger müssen Euch auch sehen können.« Sie streckte die stoffliche Hand aus und berührte den unsichtbaren grauen Faden, der ihr eine gewisse Sicherheit vermittelte. Er schien sich von ihrem Herzen aus in die Dunkelheit unten auszudehnen. »Ich werde ihn gewiss nicht verlieren.«
Illvin holte tief Luft und ließ sich auf der leeren Lagerstatt nieder. Dann legte er sein Schwert zur Seite, schälte sich aus dem gesprenkelten und schweißfleckigen Hemd und rollte seine weiten Hosenbeine auf. Goram half ihm beim Ablegen der Stiefel. Illvin streckte seine langen Beine aus und legte sich zurück; sein Gesicht war eher erstarrt als gefasst, und seine dunklen, geweiteten Augen blickten hinauf zu den Sternen. Wolkenfetzen zogen wie graue Federn über das glitzernde Gewölbe, Feuchtigkeit außerhalb ihrer Reichweite. »Ich bin bereit.« Seine Stimme klang rau, und nicht nur vom Mangel an Wasser.
Aus der Burg unter ihnen hörte Ista das leise Rasseln der Zugbrücke, die langsam wieder hochgezogen wurde. Das Klirren von Rüstungen und Hufschläge entfernte sich von den Mauern und verlor sich in der Ferne. Der graue Faden bewegte sich nun wie durch einen finsteren Tümpel und ähnelte einer Angelleine, die von einem Hecht mitgezogen wurde. »Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen beginnen.« Sie kniete zwischen den beiden Liegen nieder.
Illvin ergriff ihre Hand und drückte sie gegen die Lippen. Als Ista sie zurückzog, streichelte sie seine schlüpfrige Stirn. Nahm sich zusammen. Schloss die verwirrenden Eindrücke aus, die auf ihre Augen einstürmten, und wandte sich der Wirrnis von Licht und Schatten zu, als die sie mittlerweile das Reich der Geister wahrnehmen konnte. Sie hatte den Verdacht, dass die Götter den Anblick für sie vereinfachten und die Wirklichkeit darunter noch sehr viel komplizierter und fremdartiger war.
Sie hob die Verengung auf, die sie um das weiße Rinnsal aus Illvins Herz gelegt hatte, öffnete die Verbindung weit. Seelenfeuer strömte hervor und vereinigte sich mit dem trägen, schwerfälligen Strom, der von Cattilara ausging. Es floss in die Nacht hinaus und wand sich dabei um den grauen Faden herum, ohne ihn zu berühren. Das Leben wich aus Illvins Gesicht; es wurde starr und wächsern. Ista schauderte.
Sie wandte sich ab und betrachtete die schlafende Cattilara. Hinter dem dünnen Brustbein wirbelte der Dämon wild umher. Hier baute sich ein erheblicher Druck auf und steuerte einem katastrophalen Zusammenbruch entgegen. Istas nächste Aufgabe war gefährlich für sie alle, doch sie konnte sich ihr nicht entziehen. Sehr viele Seelen standen bei diesem Ritt auf dem Spiel …
Sie verengte den Strom von Cattilara und drückte das Seelenfeuer von ihrem Herzen hinauf in den Kopf. Der Dämon versuchte zu folgen, doch sie legte ihre wie von Schnee gezeichnete Linke auf Cattilaras Schlüsselbein. Fasziniert schaute sie auf den gräulichen Glanz, der plötzlich von ihren Fingern ausging. Der Dämon schrumpfte wieder in sich zusammen und winselte in neuerlichem Schrecken. Cattilara schlug die Augen auf.