Sie versuchte, sich zu erheben, doch ihr Körper war weiterhin gelähmt. »Ihr!«, schrie sie Ista an. »Verflucht, lasst mich gehen!«
Ista atmete langsam aus. »Arhys ist unterwegs. Habt Mitleid mit seinen Feinden, denn der Tod kommt über sie aus der Finsternis auf einem Dämonenpferd, und Schwert und Feuer bringt er mit sich. Viele werden ihn heute Nacht begleiten, auf seiner Reise zum Anwesen seines Vaters, und ihre Seelen werden vor dem hallenden Tritt seiner Füße hergetrieben wie zerfetzte Flaggen. Ihr müsst nun wählen. Werdet Ihr ihm helfen oder ihn behindern auf seiner letzten Reise?«
Cattilara warf den Kopf vor und zurück in verbissenem Leugnen. »Nein! Nein! Nein!«
»Der Gott selbst erwartet seine Ankunft. In diesem schicksalhaften Augenblick hält er den heiligen Atem an. Arhys’ Herz fliegt ihm schon voraus zu den Händen des Vaters wie eine Brieftaube. Selbst wenn er nun noch zurückgezogen werden könnte, er würde den Rest seines Lebens — und es wäre nicht mehr lang, denke ich — vor diesem Fenster verbringen und sich nach seiner letzten Heimat verzehren. Er würde es Euch nicht danken. Er kann Euch nicht lieben, wenn sein ganzes Herz bereits in jenem anderen Reich weilt. Ich fürchte, er könnte gar lernen, Euch zu hassen; denn nun weiß er, was für einer Herrlichkeit Ihr ihn beraubt. Für diesen abschließenden Moment, den letzten Augenblick der Zeit und der Wahl, denkt nicht daran, was Ihr begehrt. Denkt daran, was er begehrt. Nicht an Eure Wünsche, sondern an sein Bestes.«
»Nein!«, schrie Cattilara.
»Also gut.« Ista streckte die Hand aus, um die Verengung zu lösen. Dabei behielt sie stets den unruhigen, aufrührerischen Dämon im Blick.
Cattilara drehte den Kopf zur Seite und flüsterte: »Ja.«
Ista hielt inne, atmete aus. Flüsterte zurück: »Dann bete ich, dass die Götter mich noch verstehen mögen und mein geflüstertes Ja alle gerufenen Nein übertönt und bis in ihr fünffältiges Reich emporsteigen kann. Wie ich gehört wurde, so höre ich auch Euch.« Sie schluckte schwer. »Haltet Euren Dämon auf Kurs. Das wird nicht einfach.«
»Wird es sehr wehtun?«, fragte Cattilara. Endlich blickte sie Ista in die Augen. Ihre Stimme wäre fast unhörbar gewesen, wäre es auf der Plattform nicht so still gewesen. Nicht einmal ein Rascheln von Kleidung war zu vernehmen von den Leuten, die dastanden und abwarteten.
Ja. Nein. Ich habe keine Ahnung. »Ja, ich glaube schon. Wie bei jeder Geburt.«
»Oh. Gut.« Sie wandte sich wieder ab, doch diesmal nicht, um die Wirklichkeit zu leugnen. Ihre Augen glänzten feucht, aber ihr Gesicht war noch immer so reglos wie geschnitztes Elfenbein.
Ista hob die Hand, musste allerdings gar nicht mehr eingreifen. Cattilaras Gesicht wurde schlaff, und das weiße Feuer entströmte mit doppelter Heftigkeit ihrem Herzen, vereinte sich mit dem Strom, der von Illvin ausging, wurde zu einem Sturzbach, der über die Brüstung nach unten brauste.
Also werdet Ihr nicht alleine reiten, Arhys. Bei Euch sind die Herzen der beiden Menschen, die Euch am meisten lieben. Sie hoffte, dass sein Körper am anderen Ende dieser weißen Leine den Ausbruch als eine Woge von Begeisterung empfing.
Sie erhob sich und eilte zur Brüstung, bedeutete dabei den anderen, Verbände und Aderpressen bereitzuhalten. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit. Die Straßen glichen grauen Bändern, die offenen Flächen lagen faltig zu ihren Füßen, wie dunstverhangene Decken auf einem ungemachten Bett. Die Bäume des Walnusshaines standen schwarz und schweigend. Einige vereinzelte Wachfeuer brannten im feindlichen Lager, und jokonische Reiter patrouillierten gemächlich außerhalb der Bogenschussweite. Ein Mosaik aus dahingleitenden Schatten erreichte die Bäume und schlüpfte zwischen den Patrouillen hindurch.
Ista hielt Ausschau, mit aller Kraft ihres zweiten Gesichts, folgte dem weißen Strom und dem dünnen grauen Faden bis zu dem Ort, wo ein Dutzend Seelenfunken sich im Dunkel rührten, auf den schwächeren Lebenslichtern ihrer Pferde. Arhys’ gräuliches Glühen war unverkennbar, und Foix’ violett getönter Doppelschatten ebenso. Durch all die dazwischenliegenden, umherziehenden Massen konnte sie deutlich sehen, wie Arhys dem dämonisch leuchtenden Umriss seines Pferdes die Sporen gab und das Tier zum Galopp antrieb. Rasch näherte er sich dem ruhigen, farbigen Faden zum Lebensglanz eines Zauberers und stieß darauf hinunter wie ein Falke auf die ahnungslose Beute.
»Seht Ihr Foix?« Liss’ atemlose Stimme erklang dicht neben ihrem Ohr.
»Ja. Er reitet an Arhys’ Seite.«
Erst als das erste Zelt umstürzte, wurden Alarmrufe laut. Weitere Schreie und das Klirren von Stahl schnitten durch die Nacht, und die berittenen Patrouillen wirbelten herum und hielten auf das Lager zu. Unvermittelt dehnte sich die Schlange aus dämonischem Zauberlicht und riss. Eine bläuliche Fontäne von Seelenfeuer schoss empor, trennte sich, während Ista noch zusah, von einem gleißend purpurroten Streifen, der davoneilte, Splitter von Seelensubstanz mit sich riss und in davonfliegenden Fetzen hinter sich herzog. Das bläuliche Aufwallen wand sich in Qual und verging ins Anderswo. Der purpurrote Streifen setzte sich in einem herannahenden Seelenfunken irgendwo unter den Bäumen fest. Sowohl der Dämon wie auch der Empfänger wurden durch die Erschütterung der Ankunft zunächst einmal niedergestreckt. Doch die Schlange blieb verschwunden.
»Der Erste«, verkündete Ista laut.
Keine Schreie oder Rufe waren von den Angreifern zu vernehmen. In grimmiger, entschlossener Lautlosigkeit rückten sie vor. Erreichten den bleichen Umriss eines weiteren Zeltes, in dem der Kopf einer weiteren farbigen Schlange endete. Das Zelt schwankte, bebte, und fiel dann in sich zusammen. Der jokonische Zauberer bündelte seine Kraft für einen Zauber gegen seine Angreifer. Ista sah das Aufblitzen dämonischer Magie, und der Blitz ging geradenwegs durch Arhys hindurch, ohne Halt zu finden. Sie hörte den überraschten und ängstlichen Aufschrei des Zauberers, und wie er abgeschnitten wurde. Der ferne, dumpfe Laut, den sie noch vernahm, mochte von einer Enthauptung herrühren. Ein weiterer violetter Streifen löste sich von einem weiteren blauweißen Ausbruch. Der violette Schimmer bewegte sich erschüttert und unsicher und fuhr dann hektisch in ein Pferd, das soeben von einem jokonischen Reiter ins Gefecht gelenkt wurde. Das Tier stolperte, brach zur Seite aus, warf seinen Reiter ab und fuhr herum. In gestrecktem Galopp floh es über die Straße Richtung Oby. Der herausgerissene Schlangenkopf schien noch einen Augenblick hinterher zu tasten, als suche er nach einer Möglichkeit, erneut zuzustoßen. Dann aber fiel er in sich zusammen und verging in einem Funkenregen.
»Zwei erwischt«, verkündete Ista.
Ein Zelt fing Feuer, und flackernder Schein loderte unter den Bäumen auf, gelb und hell. Auf der anderen Seite des Hains, in den großen grünen Kommandozelten, wurden Lichter entzündet. Ohne Zweifel waren nun auch die Zauberer auf den Beinen, die beim ersten Schlag noch geschlafen hatten. Wenn sie nicht durch den Lärm geweckt worden waren, hatte gewiss Joen sie inzwischen aus dem Schlaf gerissen. Wie lange würden die überraschten Jokoner brauchen, um ihre Verteidigung zu ordnen? Oder den Gegenangriff?
Ein weiteres Aufspritzen von Seelenfeuer brannte sich in Istas inneres Auge, diesmal ohne Dämon. War ein gewöhnlicher Feind erschlagen worden, oder einer von Arhys’ wagemutigen Freiwilligen? Aus dem Blickwinkel der Götter, erkannte sie, machte es keinen Unterschied. All diese Tode, all diese Geburten wurden gleichermaßen in ihrem Reich willkommen geheißen.