»Ja«, flüsterte Ista. »Ja.«
Er blickte nicht zurück. Wenn man bedachte, was er vor sich sah, war Ista nicht im Mindesten überrascht.
Es ist vollbracht, Herr Wintervater. Ich hoffe, Ihr seid zufrieden.
Sie hörte keine Stimme und sah keine strahlende Gestalt. Doch ihr kam es so vor, als spürte sie ein Streicheln auf der Stirn, und der Schmerz dahinter, der schon seit Stunden in ihrem Kopf gewütet hatte, wurde in eiserne Bande geschlagen und verebbte. Das Ende des Schmerzes war wie ein Vogelzwitschern am frühen Morgen.
Tatsächlich waren Vögel zu hören, erkannte sie benommen. Hier im lieblichen Reich der Materie erklang das lustige, geistlose Gezwitscher zwischen den Büschen unterhalb der Burgmauern. Die grauen Wolkenfetzen am verblassenden Sternenhimmel zeigten eben erst ein blasses, glühendes Rosa, und die Farben kehrten von Ost nach West in die Welt zurück. Ein kleiner Streifen zartgelben Lichts erstrahlte am östlichen Horizont.
Illvin stöhnte. Ista wandte sich um und sah, dass er sich in dy Cabons Griff aufsetzte und blutdurchtränkte Bandagen vom unversehrten Leib riss. Seine Lippen öffneten sich, als er das Ausmaß des Durcheinanders erfasste. Die Fetzen färbten sich rot, während die Farbe in die Welt zurücksickerte. »Fünf Götter.« Er schluckte einen Anflug von Übelkeit herunter. »Das war eine schlimme Geschichte, am Ende. Nicht wahr.« Es war keine Frage.
»Ja«, sagte Ista. »Doch nun ist er fort. Sicher hinübergegangen.« Irgendwie wusste sie, dass im Hain unter ihnen die Jokoner, rasend vor Furcht, Arhys’ Leib in Stücke hackten, ihn zerrissen aus Angst, er könne sich trotz allem wieder zusammenfügen und gegen sie erheben. Doch sie sah keinen Nutzen, dies jetzt Illvin gegenüber zu erwähnen.
Cattilara lag zusammengekrümmt auf der Seite und weinte in stummen, abgehackten Schluchzern. Sie hielt den Schwamm in den Händen, mit dem man die Blutung an ihrem Bauch gestillt hatte; sie umklammerte ihn so fest, dass das Blut zwischen ihren Fingern hervorquoll. Die Näherin tätschelte ihr die Schulter, ungeschickt und nutzlos.
Die Welt um Ista verdunkelte sich, als würde die Morgendämmerung wieder hinter den Horizont zurückweichen, abgestoßen von dem Anblick, der sich ihr bot. Wie ein zufälliger Wandersmann schlenderte eine Stimme in ihren Verstand und sprach zu ihr: vertraut, ironisch und überwältigend.
Meine Güte! Ist das mit einem Mal geräumig hier!
»Was macht Ihr denn hier? Ich dachte, dies wäre das Schlachtfeld Eures Stiefvaters?«
Du hast mich eingeladen. Na, na, das kannst du nicht abstreiten: Ich habe dein Flüstern in der Ecke gehört.
Sie war sich nicht sicher, ob sie noch irgendetwas hierbei empfinden konnte. Ganz sicher keinen Zorn. Ihre körperlose Ruhe mochte entweder auf Gelassenheit zurückzuführen sein, oder auf einen Schock. Aber der Bastard war ein Gott, dem man mit Vorsicht begegnete. »Warum zeigt Ihr Euch nicht?«
Weil ich nun hinter dir stehe. Seine Stimme klang warm und belustigt. Der Druck eines ungeheuren Bauches schien ihr den Rücken zu wärmen; hinzu kam die unanständige Andeutung von Lenden, die gegen ihr Gesäß drückten, und von breiten Händen auf ihren Schultern.
»Ihr habt einen abscheulichen Humor«, meinte sie schwach.
Ja, und du verstehst jeden meiner Scherze. Ich schätze Frauen mit feinem Gehör. Er schien in ihre Ohren zu atmen. Du solltest auch eine leidenschaftliche Zunge haben, finde ich.
In ihrem Mund brannte es wie Feuer.
»Warum bin ich hier?«
Um Arhys’ Sieg zu vervollständigen. Wenn du es vermagst.
Die Stimme verklang. Die Dunkelheit wich dem blassen, schattendurchzogenen Licht der Morgendämmerung. Sie stellte fest, dass sie auf dem Boden der Plattform kniete und Illvin sie beunruhigt stütze.
»Ista? Ista!«, sprach er in ihr Ohr. »Majestät, Liebste, verängstigt nicht Euren bedauernswerten, nackten Verehrer. Sagt doch etwas!«
Sie blinzelte, sah noch verschwommen. Enttäuscht stellte sie fest, dass er nur ein fast nackter Verehrer war. Die blutdurchtränkten Fetzen seiner Leinenhosen lagen immer noch hoch geschoben um seine Lenden. Davon abgesehen sah er allerdings abenteuerlich aus: Sein verfilztes Haar hing ihm wirr ins Gesicht und über die Schultern; es war schweißnass und rußverschmiert, stinkend und mit roten Schlieren durchzogen. Doch all seine Narben waren alt und verblasst. Als er sah, dass sie seinen Blick erwiderte, schnaufte er erleichtert. Er beugte sich vor und küsste sie. Sie wehrte seine Lippen mit der Handfläche ab. »Wartet. Nicht jetzt.«
»Was war denn los?«, fragte er.
»Habt Ihr etwas gehört? Oder jemanden gesehen?«
»Nein. Doch ich könnte schwören, Ihr habt!«
»Wie bitte? Könntet Ihr nicht eher schwören, dass ich verrückt geworden bin?«
»Nein.«
»Und dabei seht Ihr gar nichts vom Licht der Götter, und Ihr hört keine Stimme. Wie könnt Ihr Euch sicher sein?«
»Ich habe das Gesicht meines Bruders gesehen, als Ihr ihn gesegnet habt. Und das Eure, als er Euren Segen erwiderte. Wenn das Wahnsinn ist, dann würde ich mich in seine Arme werfen, so wie ich bin. Und barfuß hinter ihm herlaufen.«
»Ich werde langsam gehen.«
»Gut …«
Er half ihr auf.
Besorgt fragte Liss: »Majestät, was ist mit Foix?«
Ista seufzte. »Foix ging zu Boden, umringt von vielen Kriegern und Zauberern. Aber ich habe nicht gesehen, wie seine Seele aufstieg oder sein Dämon floh. Ich fürchte, er wurde gefangen genommen, vielleicht auch verwundet.«
»Das … ist nicht so gut«, merkte dy Cabon an. Er kniete noch immer neben Illvins Lager. In einer abgehackten, nervösen Bewegung knirschte er mit den Zähnen. »Meint Ihr, Joen kann ihn in ihre Schar eingliedern?«
»Ich glaube schon. Wenn sie die Zeit dafür hat. Ich weiß allerdings nicht, wie lange er ihr widerstehen kann.« Ihr Götter, ich will nicht einen weiteren Jungen verlieren.
»Ganz und gar nicht gut«, stimmte Illvin zu.
Kaum hatte er ausgeatmet und stand selbst sicher auf den Füßen, ertönte ein Schrei. Gorams Stimme: »Lady Catti! Nein!«
Ista fuhr herum. Cattilara war aufgestanden, das blutige Kleid bauschte sich um ihren Leib. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund stand offen. Das Leuchten des Dämons in ihrem Innern erfüllte den gesamten Körper und pulsierte heftig.
»Der Dämon hat die Herrschaft an sich gerissen!«, rief Ista aus. »Er übernimmt sie. Ergreift sie, lasst sie nicht entkommen!«
Goram stand am nächsten und versuchte, sie am Arm zu packen. Ein violettes Licht erstrahlte in ihrer Handfläche, und sie schleuderte es ihm entgegen. Keuchend ging er zu Boden. Ista wankte auf sie zu, trat zwischen sie und den Durchgang zum Treppenhaus. Cattilara sprang vor, schreckte dann aber zurück. Sie riss die Hände empor, als müsse sie die Augen abschirmen. Wild blickte sie um sich. Ihre Knie spannten sich, und sie stürzte auf die Mauer zu.
Liss machte einen Satz und bekam sie am Knöchel zu fassen. Cattilara wirbelte herum, knurrte und riss Liss an den Haaren. Illvin sprang herbei, zögerte kurz und schätzte ab, dann schlug er ihr gezielt gegen die Schläfe. Halb betäubt taumelte sie zurück.
Ista stolperte und fiel neben ihr auf die Knie. Für ihre Augen war Cattilaras Dämon ein Geschwulst, das seine Ausläufer durch den gesamten Leib ausstreckte. Wie eine parasitische Ranke wand er sich um den Stamm der Seele, zehrte von ihrer Stärke, ihrem Leben, ihrem Licht. Stahl von der Vielschichtigkeit ihrer Persönlichkeit, ihrer Sprache, ihres Wissens und ihrer Erinnerung, die er wegen der grundlegenden Unordnung seines Wesens niemals selbst würde ausbilden können.