»Vielleicht für die nächste Stunde.«
»Eine Stunde ist genug. Wenn es die richtige Stunde ist.«
Arhys’ verlassener Page trottete auf den steinernen Innenhof und rief vom Fuße der Treppen hinauf: »Majestät? Sie sind für Euch zum Seitentor gekommen.«
»Ich komme«, rief sie freundlich zu ihm hinab. Sie zögerte und warf Illvin einen missmutigen Blick zu. »Werden die Jokoner Euch überhaupt mit mir kommen lassen?«
»Sie werden sich sogar freuen, dass sie einen weiteren Gefangenen von Rang erhalten, ohne etwas dafür tun zu müssen. Außerdem ist es die perfekte Verkleidung, um ihr Lager auszuspionieren und die Stärke ihrer Truppen.«
»Was glaubt Ihr, was Ihr als Gefangener auskundschaften könnt?« Sie musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. »Und was soll die Verkleidung dabei sein?«
Seine Lippen zuckten. »Eine Verkleidung als Feigling, liebe Ista. Wenn sie schon glauben, dass wir Euch verraten, um unser Eigentum zu retten, dann können sie auch glauben, dass ich mit Euch gekommen bin, um meine Haut zu retten.«
»Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas in dieser Richtung glauben werden.«
»Umso besser für mein mitgenommenes Ansehen.«
Sie blinzelte und fühlte sich allmählich aufgekratzt. »Wenn ich scheitere, werden sie Futter für die Dämonen aus Euch machen. Ein regelrechtes Festmahl für einen der jokonischen Zauber-Offiziere. Vielleicht sogar für Sordso selbst.«
»Ah, aber wenn Ihr Erfolg habt, Majestät! Habt Ihr Euch schon einmal überlegt, was Ihr danach machen wollt?«
Unbehaglich wich sie seinem dunklen, eindringlichen Blick aus. »Was danach kommt, ist nicht meine Aufgabe.«
»Genau das habe ich mir gedacht«, sagte er in triumphierenden Tonfall. »Und Ihr bezeichnet mich als sonderbar! Dazu sage ich jetzt gar nichts mehr. Gehen wir?«
Schon ruhte ihre Hand auf seinem Arm. Sie versuchte immer noch zu entscheiden, ob sie nun überzeugt worden war oder nur verwirrt. Er führte sie die Treppen hinunter, als schritten sie gemeinsam in einer Art Prozession dahin, zu einer Hochzeit oder einer Krönung, oder an einem Festtag, oder auf den Tanzboden im Palast des Königs.
Diese Illusion endete bald, als sie sich ihren Weg über den verwüsteten Sternenhof suchten, wo heute Morgen zwei weitere Pferde tot und mit geschwollenen Leibern lagen. Sie schritten weiter, unter dem schattigen Torbogen hindurch und in das Durcheinander auf dem Vorhof. Ein Dutzend Männer hatte sich auf den Mauern versammelt, um die jokonische Gesandtschaft zu sehen, die draußen auf sie wartete. Es war beinahe die gesamte Garnison, die überhaupt stehen konnte.
Zwei kurze, runde Türme ragten an beiden Enden des vorderen Walles nach außen. Von hier konnte man den Bereich vor dem Außentor ins Kreuzfeuer nehmen. Einige weitere Soldaten und eine füllige vertraute Gestalt in unvertrauten Gewändern wartete vor dem linken der beiden Türme, der die Seitenpforte beherbergte. Ista und Illvin, gefolgt von Goram und Liss, hielten dort an.
»Dy Cabon.« Ista begrüßte den Geistlichen mit einem Nicken. Er hatte sich der auffälligen Gewänder seines Ordens entledigt — die verschmutzten weißen Stoffe waren ohnehin nur noch zum Verbrennen gut gewesen. Inzwischen trug er ein Mischmasch geliehener Kleidung, die ihm meistenteils nicht passte. In allen Farben außer weiß, wie Ista bemerkte.
»Majestät.« Er schluckte. »Bevor Ihr geht … wollte ich um Euren Segen bitten.«
»Das trifft sich gut. Bevor ich gehe, wollte ich auch um den Euren bitten.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Stirn. Wenn dabei irgendetwas vom göttlichen Licht auf ihn überging, war es zuwenig, um selbst von ihrem zweiten Gesicht gesehen zu werden. Er schluckte und legte ihr die Hand auf die Stirn. Was für einen förmlichen Segensspruch auch immer er vorbereitet hatte, er vergaß ihn, brach in Tränen aus und brachte nur ein ersticktes »Der Bastard hilf uns!« zustande.
»Pssst«, meinte Ista tröstend. »Es ist gut.« Zumindest so gut, wie es sein konnte, unter den gegebenen Umständen. Sie musterte ihn genauer. Er hatte schlaflose Stunden bei den Kranken verbracht, er war ihren Bedürfnissen ausgesetzt gewesen, die unmöglich zu erfüllen waren und die Fähigkeiten erforderten, die er nicht besaß. Das alles hatte ihn zutiefst erschüttert. Das blutige Ritual auf dem Nordturm war noch quälender für ihn gewesen. Sein Gott hatte seine Seele untertunnelt und ausgehöhlt, bis kurz vor dem Durchbruch. So dünn waren ihre Umfassungen geworden, dass sie jeden Augenblick aufbrechen konnten — auch wenn dy Cabon selbst nichts davon merkte. Entweder hatten die Götter ungewöhnlich viel Glück gehabt, indem sie zwei solche Maultiere für ihre Zwecke die Straße nach Porifors entlanggetrieben hatten, oder sie hatten sich außergewöhnlich viel Mühe gegeben … Ich frage mich, ob dy Cabon ihre zweite Angriffslinie sein soll?
Konnte sie vielleicht darum beten, dass ihre Bürde stattdessen auf ihn überging? Der Gedanke wühlte sie auf, und sie blinzelte, um ihre Sicht zu klären. In ihr regte sich die Furcht erregende Überzeugung, dass die Antwort Ja lautete. Ja. Ja! Lasst die Verantwortung für dieses Unglück auf einen anderen übergehen, nicht auf mich, nicht schon wieder auf mich …
Nur dass dy Cabons Chancen, einen Erfolg zu überleben — oder gar ein Scheitern —, noch geringer waren als die ihren. Sie unterdrückte den Wunsch, vor seinen Füßen niederzufallen und ihn zu bitten, an ihrer Stelle zu gehen. Nein.
Für diesen Platz habe ich bezahlt. Die Kosten haben mich leer werden lassen. Ich werde ihn für niemanden aufgeben.
»Reißt Euch zusammen, dy Cabon, oder verschwindet von hier«, murmelte Illvin finster. »Euer Weinen macht sie nervös.«
Dy Cabon schluckte wieder und gewann seine Selbstkontrolle zurück. »Entschuldigung. Entschuldigung. Es tut mir Leid, dass meine Fehler Euch hierher gebracht haben, Majestät. Ich hätte mich niemals in Eure Pilgerfahrt drängen sollen. Es war vermessen.«
»Ja, nun, wärt Ihr nicht gewesen, hätten die Götter einfach jemand anderen geschickt, um die Fehler zu machen.« Jemanden, der unterwegs vielleicht gescheitert wäre. »Wenn Ihr mir dienen wollt, so lebt und legt Zeugnis ab. Eure Kirche muss die Wahrheit über dies alles erfahren, auf die eine oder andere Weise.«
Er nickte eifrig und hielt dann inne, als fände er die angebotene Möglichkeit zum Rückzug schwerer anzunehmen, als er erwartet hatte. Er verneigte sich und blieb mit gerunzelter Stirn zurück.
Illvin legte sein Schwert ab und reichte es Goram. »Bewahre das für mich auf, bis ich zurückkehre. Ich sehe keinen Grund, Sordso das Schwert meines Vaters als Geschenk zu überreichen, außer mit der Spitze nach vorn.« Goram nickte und versuchte, würdevoll auszusehen, doch seine Miene wirkte verzerrt.
Ista umarmte Liss, die mit einem finsteren Blick auf dy Cabon die Tränen unterdrückte. Dann führte Illvin sie durch den dunklen umschlossenen Raum unter dem Turm. Die Tür schwang auf und ließ Licht ein, und grunzend und keuchend hantierte ein Soldat mit irgendetwas, das mit einem gedämpften Knall zu Boden fiel. Dann trat er beiseite und ließ die beiden vorüber.
Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem Gegenstand um ein schmales Brett handelte, das er über die steile Kluft vor der Burgmauer geworfen hatte. Illvin zögerte, und Ista fragte sich, ob er an all die Dinge dachte, die gestern überall auf Porifors zufällig zu Bruch gegangen waren. Ob diese behelfsmäßige Brücke einem ebenso üblen Zauber ausgesetzt gewesen war? Dann aber warf er ihr ein ermutigendes Lächeln über die Schulter zu und ging entschlossen hinüber. Das Brett bog sich beunruhigend durch, als er die Mitte erreichte, aber es hielt.