Ista schreckte zurück, doch die Präsenz bestärkte sie. Wenn sie nicht bleiben will, muss sie mitkommen, sagte die Stimme. Mach weiter.
Eure unrechtmäßigen Versuche, Ordnung zu schaffen, haben nur schlimmere Verwüstung herbeigeführt, sagte Ista zu Joen. Ihr quält und beschädigt eben jene Seelen, von denen Ihr am meisten wünscht, dass sie wachsen und Euch lieben. Ihr besitzt wahrhaftigere Gaben, so unterdrückt sie auch sein mögen. Lasst los, sucht stattdessen nach ihnen, und lebt!
Das peitschende weiße Feuer war ein einziger manifester Widerspruch. Ista fand nicht das leiseste Flüstern einer Zustimmung darin.
Gut.
Sie führte den schwarz-violetten Dämon an die Lippen und zog ihn hinein. Er schien sich zu dehnen und zu verzerren, während er durch sie hindurchging; sein Kreischen wurde zu einem Schmerz in ihrem Mund, zu einem Brennen in ihrer Speiseröhre. Da sind Seelen darin gebunden, erkannte sie. Viele Stücke von sehr alten Seelen, alle aufgelöst und ineinander gelaufen. Die Seelen von Verstorbenen, und von längst schon Verstorbenen. Was geschieht mit ihnen?
Die Toten gehören uns. Sie zu ordnen, zählt nicht zu deiner Bestimmung. Die Seelen jener, die noch leben, die zur Unzeit entzweigerissen wurden, während sie noch in der Welt des Körperlichen gefangen waren, sollen in Unserem Namen deine Sorge sein.
Und was ist hiermit, fragte Ista. Joens lebendige, weiße Seelensubstanz glitt nun in ihr Inneres, fest mit dem Dämon verstrickt. Sie kratzte und brannte.
Das wechselt nun von deinen Händen in meine.
Das war nicht die stille Verdammnis der verlorenen Seelen. Tatsächlich schien von dem weißen Feuer ein Heulen auszugehen, das Istas Ohren von innen her zerriss. Und ebenso wenig der heilsame Frieden des Himmels.
Nein, sagte die Stimme bedauernd. Dies ist Nicht-wollen. Also soll es mitsamt dem Dämon zu einem Ort des Nichtsein wechseln.
Ista hatte eine Vision von einer seltsamen, dimensionslosen Leere; ein Bild, das vielleicht von Seinem Geist in ihren sickerte: Ein brodelnder Tümpel dämonischer Energie, ohne Form, ohne Person, ohne Geist oder Willen oder Klang oder Stimme oder Erinnerung oder irgendeine andere Gabe höherer Ordnung — die Hölle des Bastards. Ein Reservoir reinster Vernichtung. Ein dünner, genau kontrollierter Zufluss strömte von diesem Tümpel aus in die Welt der Materie. Und ein sprunghafter Schwall kehrte von dort wieder in diese Hölle zurück. Und mit diesem Austausch wurde das Leben in der materiellen Welt genau in der Mitte zwischen dem heißen Tod des Chaos und dem kalten Tod der Erstarrung ausbalanciert. Endlich erkannte sie, warum die Verkettung von Joens Dämonen sie so nervös gemacht hatte, auf eine Weise, die nur wenig mit der unmittelbaren Bedrohung für Porifors zu tun gehabt hatte. War es möglich, dass ein solcher Strudel des Chaos einen eigenen Riss zwischen den beiden Welten auftun könnte, einen Riss, den selbst die Götter nur noch mit Mühe würden flicken können? So viel göttliche Aufmerksamkeit an einem so unbedeutenden Ort …
Ein wenig menschliche Aufmerksamkeit würde mich im Augenblick sehr erfreuen, murmelte die Stimme in ihrem Innern. Weder leugnete sie die Mutmaßungen, wie Ista sehr genau bemerkte, noch bestätigte sie irgendetwas. Bring den Rest meiner kleinen Geschwister zu mir, süße Ista, so rasch du es vermagst. Ohne Zweifel brauchst du noch etwas Übung, ehe es reibungslos läuft.
Meine erste Prüfung ist also ein Dutzend auf einmal? In ihrem Bauch loderte ein Schmerz, als hätte sie geschmolzenes Blei geschluckt. Zu diesem Übelkeit erregenden, verdrehten Ding?
Nun, sagte die Stimme freundlich, wenn du das hier überlebst, sollte kein anderer verirrter Dämon in der materiellen Welt noch eine allzu große Herausforderung für dich sein.
Ista erwog eine Fülle von Einwänden, angefangen mit: Was soll das heißen, wenn …? Doch sie unterdrückte die Regung. Sich mit dieser Präsenz auf ein Streitgespräch einzulassen, würde vermutlich nur bewirken, dass ihr Geist in endlosen Kreisen dahinwirbelte, bis sie benommen war.
Ihr werdet mich nicht noch einmal verlassen, fragte sie misstrauisch.
Ich habe dich nicht einmal verlassen … so wenig wie du mich, wie ich wohl bemerkt habe. Hartnäckige Ista.
Sie wandte ihr zweites Gesicht wieder nach außen. Nach dem Gott Ausschau zu halten war so aussichtslos, als würde sie versuchen, auf den eigenen Hinterkopf zu blicken. Joens Mund stand offen, und ihre Augen waren verdreht. Ihr Leib sank in sich zusammen. Irgendwo unter Istas Brustbein ließ der erste Schmerz nach, während der Gott den uralten Dämon und seine kratzende Herrin in sein Reich hinüberzog. Dahinter folgte ein Dutzend verworrener, sich windender Schnüre, die nun zu Ista liefen und nicht länger zu Joen. Es zerrte und zuckte, als die daran gefesselten Dämonen vor der gefürchteten Gegenwart ihres Gottes zu fliehen versuchten. Die menschlichen Leiber, in denen sie untergebracht waren, setzten sich eben erst in Bewegung, verzweifelt angetrieben von den Dämonen, die sie kontrollierten.
Einen nach dem anderen oder alle auf einmal? Ista streckte die Hände ihrer Seele aus und griff zufällig eine Schnur heraus, ließ die Lichthände daran entlangstreifen bis zu dem Dämon im Innern einer Zofe. Dieser war sorgfältig herangezüchtet; Teile von drei oder vier unterschiedlichen Seelen wirbelten in ihm umher. Das weiße Seelenfeuer des lebenden Wirts war deutlicher zu erkennen, und Ista kämmte es zu der Frau zurück, doch es gelang nur unvollkommen. Ista schluckte den Dämon herunter. Der Rücken der Frau krümmte sich, und sie brach zusammen. Diesmal glitt der Dämon leichter in die Hände des Gottes, war beinahe sofort aus der Welt verschwunden.
Diese Leinen. Ich erinnere mich daran. Es war ein sehr ähnliches Band, mit dem. ich Arhys letzte Nacht sicher ans Ufer gezogen habe.
Man hat sie Uns gestohlen, vor langer Zeit. Der Dämon hätte so etwas nicht selbst erschaffen können, musst du wissen. Zorn klang aus der Stimme, doch nur der leiseste Widerhall davon drang bis zu Ista durch. Andernfalls hätte es sie zerschmettert.
Sie griff nach einer weiteren Leine und wiederholte die Bewegungen des Pflückens und Kämmens. Diesmal war es ein Mann, einer der Offiziere. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei. Ich kann das alles nicht alles trennen, stellte sie besorgt fest. Ich bekomme es nicht in die richtige Ordnung.
Du machst das hervorragend, versicherte ihr die Stimme.
Es ist unvollkommen.
So ist es mit allem, was der Zeit unterliegt. Du machst es trotzdem hervorragend. Was für ein Glück für Uns, dass Uns nach prachtvollen Seelen dürstet und nicht nach makellosen. Ansonsten würden wir allerdings Mangel leiden und wären überaus einsam in Unserer vollkommenen Rechtschaffenheit. Mach ruhig unvollkommen weiter, strahlende Ista.
Ein weiterer, und noch einer. Die Dämonen strömten ihr zu, durch sie hindurch, immer schneller. Doch es war unbestreitbar ein schlampiger Prozess. Der nächste Dämon war der von Sordso; er war die aufwendigste Konstruktion, die Ista bisher gesehen hatte. Eine Lage von Seelen über der anderen, ihre Gaben und Fähigkeiten verwoben mit dem gequälten, eingeschnürten Seelenfeuer des jungen Mannes. Es war ein seltsam liebevolles Werk. Ista glaubte, einzelne Stücke erkennen zu können: von Kriegern, Gelehrten, Richtern, Schwertkämpfern und Asketen. Alle bekannten Tugenden des Goldenen Heerführers, eingesammelt und konzentriert — das reinste Muster vollkommener Männlichkeit. Es war erschreckend. Wie konnte etwas, das aus Seelen verfertigt war, so kalt und seelenlos sein?