Aber keine Dichter. Nicht ein einziger.
Dieses dunkle Stück Seele hier ist anders, bemerkte sie, als eines der Bruchstücke durch ihre Finger glitt.
Ja, sagte der Gott. Dieser Mann lebt noch, in der Welt des Stofflichen.
Wo? Ist es …? Soll ich versuchen …?
Wenn du glaubst, du kannst es ertragen. Es wird unangenehm.
Ista rollte den Flecken aus Dunkelheit auf und verstaute ihn in irgendeinem Winkel ihres Geistes. Dort pulsierte er, heiß und dicht. Irgendwo am Rande ihrer materiellen Wahrnehmung hob der bronzehäutige jokonische Offizier sein Schwert und drehte sich herum. Etwas Schwarzes bewegte sich mit ihm — nein, Illvin, und er folgte dem Offizier. Ista achtete nicht mehr darauf und fuhr fort, die Seelen auszukämmen. Sordsos Mund öffnete sich zu einem wortlosen Heulen, doch nicht wie ein Mann, der um ein verlorenes Gut trauert. Es mochte Zorn sein. Oder Freude. Oder Wahnsinn.
Und schließlich das nächste Band … das letzte.
Ista blickte auf, mit ihren körperlichen Augen wie auch mit ihrem zweiten Gesicht, und sie erkannte den kreidebleichen Foix in seinem grünen Wappenrock, der zwischen den erschrockenen jokonischen Offizieren stand. Der violette Schatten in seinem Innern besaß nicht mehr die Form eines Bären, sondern war ungleichmäßig über seinen gesamten Leib verteilt. Er schien sich gleichzeitig vor ihr zu ducken und sie fasziniert anzustarren.
Sie betrachtete nachdenklich diese letzte Leine, die in den Händen ihrer Seele lag. Dann führte sie die Leine zum Mund. Und biss sie durch.
Gut, sagte die Stimme.
Oh. Hätte ich fragen sollen?
Du bist mein Torwächter in der materiellen Welt. Wenn ein Herr einen Pförtner ernennt, so erwartet er nicht, dass dieser bei jedem Bettler — ob in Lumpen oder in Seide — zu ihm läuft und fragt, ob man ihn einlassen oder abweisen soll. Da könnte sich der Herr auch gleich selbst ans Tor stellen. Vom Pförtner wird erwartet, dass er sein eigenes Urteilsvermögen gebraucht.
Mein Urteilsvermögen? Sie ließ das Ende der Leine los. Das Band schnellte zurück zu Foix, und er war frei … oder was immer Foix jetzt war.
In seinem Gesicht zuckte es. Sein Mund öffnete sich, schloss sich wieder. Dann, nach kaum einer Sekunde, verzog er sich wieder zu jenem schrecklich bemühten Lächeln vollkommenen Einverständnisses. Eine gefälschte Falschheit, umgekehrter Verrat. Er ist viel durchtriebener, als er aussieht.
Ista war sich der Schreie und des Aufruhrs, der überall im Zelt ausbrach, kaum bewusst. Die Stimmen klangen immer schwächer und entfernter, die Gestalten wurden blasser und blasser. Sie wandte sich um und folgte der hypnotischen Stimme.
Wie es schien, gelangte sie zu der Tür ihres eigenen Selbst und schaute hindurch. Ein überwältigender Eindruck von Farbe und Schönheit, Struktur und Vielfalt, Musik und Gesang verwirrte ihre Sinne; alles war von unendlicher Kunstfertigkeit. Sie fragte sich, wie verwirrend die Welt für ein Neugeborenes aussehen mochte, das weder Namen hatte für das, was es sah, noch auch nur die Vorstellung von Namen. Ista nahm an, dass das Kind vom Gesicht und der Brust der Mutter ausging und sich von dort nach außen vorarbeitete — und eine Lebensspanne reichte nicht aus, um an das Ende zu gelangen.
Diese Welt ist größer und merkwürdiger als die der Materie, in die meine Seele zuerst hineingeboren wurde. Und schon die stoffliche Welt ist mehr, als ich verstehen kann. Wie soll ich hier anfangen?
Nun, Ista, sagte die Stimme. Bleibst du oder gehst du? Du kannst nicht ewig wie eine Katze auf meiner Türschwelle herumlungern, musst du wissen.
Ich habe keine Worte, um dies hier zu beschreiben. Ich möchte Euer Gesicht sehen.
Unvermittelt stand sie in einem hohen Raum, nicht unähnlich den Räumlichkeiten von Porifors. Rasch blickte sie an sich herab und war erleichtert, als sie feststellte, dass sie nicht nur einen Körper bekommen hatte — unversehrt, sauber und frei von Schmerzen —, sondern auch Kleidung. Die Gewänder glichen dem, was sie auch in der materiellen Welt getragen hatte, doch die Flecken waren verschwunden und die Risse ausgebessert. Sie blickte auf und fuhr zurück.
Diesmal hatte er sich Illvins Körper und Antlitz zu Eigen gemacht. Es war eine gesunde und nicht mehr abgemagerte Version des echten Illvin, wenn auch noch immer groß und schlank. Seine höfischen Gewänder waren von silberbesticktem Weiß, sein Überwurf aus Seide, sein Schwertgriff und sein Siegelring funkelten. Sein Haar war auf roknarische Art zurückgeflochten und lief in einem langen, dicken Zopf aus. Es war von reinstem Weiß. Die endlose Tiefe seiner Augen durchkreuzte allerdings den Anschein von Menschlichkeit, auch wenn die dunkle Farbe durchaus an den dargestellten Mann erinnerte.
»Ich hätte gern erlebt«, gestand sie schwach, »wie Illvins Haar weiß wird.«
»Dann wirst du zurückgehen und eine Weile warten müssen«, erwiderte der Bastard. Seine Stimme war kaum tiefer oder volltönender als die des Originals, selbst dessen nördliche Sprachmelodie war vorhanden. »Natürlich müsstest du Risiken eingehen: Wenn sein Haar erst mal weiß geworden ist — wird dann überhaupt noch etwas davon übrig sein?«
Sein Körper und sein Gesicht veränderten sich, imitierten Hunderte möglicher Illvins in hundert möglichen Altern, gerade oder gebeugt, dünn oder dick, kahl oder nicht. Doch die Belustigung auf seinen Zügen blieb stets dieselbe.
»Ich möchte … das hier.« Nicht einmal Ista selbst wusste so genau, ob ihre Handbewegung den Gott meinte oder den Mann. »Kann ich hereinkommen?«
Sein Lächeln wurde sanfter. »Die Wahl liegt bei dir, meine Ista. Da du mich nicht zurückgewiesen hast, werde ich dich auch nicht zurückweisen. Doch ich würde auch auf dich warten, wenn du dich für den längeren Weg in mein Reich entscheidest.«
»Ich könnte mich auf dieser Straße verirren.« Sie schaute zur Seite. Tiefe Ruhe erfüllte sie. Kein Schmerz, keine Furcht, kein Bedauern. Diese riesigen Lücken schienen Platz zu schaffen für … irgendetwas. Irgendetwas Neues, von dem sie nie zuvor zu träumen gewagt hätte. Wenn es das war, was Arhys gefühlt hatte, dann war es kein Wunder, dass er nie mehr zurückgeblickt hatte. »Das ist also mein Tod. Warum hatte ich jemals Angst davor?«
»Ich hatte nie den Eindruck, dass du übertriebene Furcht davor gezeigt hast«, bemerkte er trocken. »Und ich kenne mich damit aus.«
Sie blickte sich um. »Vielleicht ist das Paradies noch mehr als das Ende allen Leidens, aber, oh, das scheint mir fast schon paradiesisch genug. Kann es beim nächsten Mal … schmerzvoller sein?«
Er zuckte die Schultern. »Wenn du erst mal wieder in die materielle Welt zurückkehrst, sind meine Möglichkeiten, dich zu beschützen, begrenzt. Und diese Grenzen schließen Schmerzen leider nicht aus. Diesen Tod kannst du selbst wählen. Den nächsten vielleicht nicht.«
Unwillkürlich hoben sich ihre Mundwinkel. »Wollt Ihr damit sagen, ich könnte in einer weiteren Viertelstunde schon wieder vor diesen Toren stehen?«
Er seufzte. »Das hoffe ich nicht. Ich müsste einen neuen Pförtner ausbilden. Seit einiger Zeit habe ich eine Schwäche für eine gewisse Königin.« Seine Augen funkelten. »Und das gilt auch für meinen prächtigen Illvin. Immerhin hat er für dich zu mir gebetet. Und bedenke, was ich für einen Ruf habe!«