»Dy Cabon«, fuhr sie fort. »Ihr wolltet Zeuge eines Wunders sein, und das seid Ihr nun. Bitte geleitet Hauptmann dy Hixar zurück in sein Gemach. Er braucht Ruhe, damit sein Verstand seine Erinnerung wieder ins Gleichgewicht kommen. Ein wenig geistlicher Beistand wäre vielleicht nicht verkehrt, wenn er so weit ist.«
»Allerdings, Majestät«, entgegnete dy Cabon und schlug überglücklich das heilige Zeichen. »Es wäre mir eine Ehre.« Er half Goram — dy Hixar — auf die Füße und führte ihn unter dem Torbogen hindurch davon. Illvin sah ihnen nach und richtete seine dunklen Augen dann wieder nachdenklich auf Ista.
Mit schwacher Stimme wollte dy Baocia wissen: »Was ist da eben geschehen?«
»Fürstin Joen hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mit Hilfe ihres Dämons für ihre Zauberer nützliche Stücke aus den Seelen anderer Leute zu stehlen. Unter anderem von Kriegsgefangenen. Fürst Sordso war ihr bedeutendstes Konstrukt und voll von solchen Bruchstücken. Als Sordsos Dämon gestern durch mich hindurchgegangen ist, erlaubten mir die Götter, jenen Teil von Hauptmann dy Hixar zu erkennen und zurückzuhalten, der mit den anderen Teilen verwoben war, und so konnte ich ihn gerade zurückgeben. Dies gehört zu der Aufgabe, die der Bastard mir übertragen hat: Die Dämonen in der Welt der Materie zu jagen, sie aus ihren Wirten herauszurupfen und in seine Hölle weiterzuleiten.«
»Und diese Aufgabe … ist nun vollendet, nicht wahr?«, fragte er hoffnungsvoll. Oder eher besorgt. Er blickte über das Durcheinander von Porifors. »Gestern, oder?«
»Nein. Ich nehme an, das war nur der Anfang. In den letzten drei Jahren ließ Joen eine regelrechte Heimsuchung an Elementargeistern auf die Welt los. Sie sind entkommen und haben sich über alle fünf Fürstentümer und über die Königreiche verbreitet. Doch die meisten von ihnen befinden sich vermutlich noch immer in Jokona. Die Frau, die vor mir diese Berufung hatte, wurde in Rauma ermordet. Es ist nicht leicht, sich für diesen Dienst ausbilden zu lassen. Wenn ich den Gott richtig verstanden habe — Er findet Gefallen an Rätseln und Mehrdeutigkeiten —, suchte Er einen Nachfolger, der ein wenig besser beschützt sein würde, da uns in der nächsten Zeit einige … äh, theologische Herausforderungen bevorstehen.«
Illvins Augen funkelten, während er zuhörte. »Das erklärt einiges«, murmelte er.
»Er ließ mich wissen, dass Er nicht noch einen Pförtner ausbilden will«, fügte Ista hinzu. »Und dass Er seit einiger Zeit eine Schwäche für eine Königin hat. Genau so hat Er es ausgedrückt.« Sie hielt kurz inne, um ihre letzte Aussage zu unterstreichen. »Ich wurde gerufen. Ich komme.« Und du kannst mir entweder helfen, Bruder, oder mir aus dem Weg gehen. »Ich möchte einen fahrenden Hof zusammenstellen, klein und beweglich. Die Pflichten des Gottes werden vermutlich auch weiterhin körperliche Mühen erfordern. Mein Sekretär, sobald ich einen ernannt habe, und der Eure müssen sich bald zusammensetzen und überlegen, wie man mir die Erträge meines Wittums nachsenden kann. Ich bezweifle, dass meine Aufgaben mich zurück nach Valenda führen werden.«
Dy Baocia ließ das alles für einen Augenblick auf sich wirken, dann räusperte er sich und meinte bedächtig: »Meine Männer bereiten unser Lager bei einer Quelle östlich der Burg vor. Willst du dich auch dort einrichten, Ista, oder wieder deine Gemächer hier in Porifors beziehen?«
Ista schaute zu Illvin auf. »Das zu entscheiden, obliegt der Burgherrin. Doch solange die Festung noch mit den Folgen des Angriffs belastet ist, möchte ich ihr nicht meinen angewachsenen Haushalt aufbürden. Ich werde eine Weile in deinem Lager verweilen.«
Illvin bedachte sie mit einem kurzen, anerkennenden Nicken für ihr Feingefühl und für alles, was unausgesprochen mitschwang: Bis die Toten begraben sind.
Ihr Bruder bot ihr an, sie zu den Zelten zu begleiten, da er sich ohnehin in diese Richtung wenden wollte. Illvin verneigte sich förmlich vor ihr, zum vorläufigen Abschied.
»Meine Pflichten heute sind drängend«, murmelte er. »Doch später muss ich mit Euch noch besprechen, wie wir einen angemessenen Wachtrupp für Euren fahrenden Hof zusammenstellen.«
»Das ist wahr«, erwiderte sie. »Und auch über weitere Einstellungen.«
»Und Berufungen.«
»Darüber auch.«
Pejar und seine beiden getöteten Kameraden aus dem Orden der Tochter wurden an diesem Nachmittag außerhalb der Mauern von Porifors begraben. Ista und all ihre Begleiter nahmen an den Feierlichkeiten teil. Früher am Tag war dy Cabon noch besorgt zu Ista gekommen, da er zwar die Zeremonien leiten sollte — keiner war besser dafür geeignet, wie Ista fand —, aber keine heiligen Tiere zur Verfügung hatte, um anzuzeigen, welcher Gott sich der Seelen angenommen hatte. Die Tiere aus Porifors’ eigenem Tempel waren bereits überlastet und überdreht von den Anforderungen des Tages.
»Hochwürden«, schalt sie ihn sanft. »Wie brauchen keine Tiere. Wir haben mich.«
»Oh«, sagte er und wich zurück. »Da Ihr jetzt wieder eine Heilige seid — natürlich.«
Und so kniete sie nun im hellen Sonnenlicht nacheinander neben jeder der eingehüllten Gestalten, legte die Hände auf deren Stirn und betete für das Zeichen. In größeren Tempeln wie dem von Cardegoss bot jeder Orden ein heiliges Tier auf, in Farbe und Geschlecht passend zu der Gottheit, die es repräsentierte, zusammen mit dem jeweiligen geweihten Tierpfleger. Diese Tiere wurden nacheinander an die Bahre geführt, und aus ihrem Verhalten schlossen die Geistlichen für die Trauernden, welcher Gott die Seele des verstorbenen Angehörigen aufgenommen hatte, wohin sie ihre Gebete richten mussten und auf welchem Altar sie ihre Opfer abzulegen hatten. Diese Zeremonie brachte den Hinterbliebenen Trost, dem Tempel Einnahmen und gelegentlich ein paar Überraschungen.
Ista hatte sich oft gefragt, was die für diese Pflicht abgerichteten Tiere dabei empfanden. Erleichtert stellte sie fest, dass sie nicht von heiligen Visionen heimgesucht wurde. Sie verspürte einfach nur eine ruhige Gewissheit. Pejar und der Erste seiner Kameraden waren von der Frühlingstochter aufgenommen werden, der sie auch so treu gedient hatten. Das spürte sie sofort, und so ließ sie es die anderen wissen. Beim letzten Mann, stellte sie fest, war es anders.
»Seltsam«, meinte sie zu Ferda und Foix. »Der Wintervater hat Laonin zu sich genommen. Ich frage mich, ob wegen seines Mutes bei Arhys’ Ritt, oder ob er irgendwo ein Kind zurückgelassen hat. Er war nicht verheiratet, oder?«
»Ah … nein«, bestätigte Ferda.
Ista erhob sich vom Grab. »Dann gebe ich Euch den Auftrag, das herauszufinden. Sorgt dafür, dass das Kind versorgt ist, falls es lebt. Ich werde auch ein Schreiben an den Großmeister dy Yarrin aufsetzen. Ich werde Geld stiften, um es während der Kindheit zu unterhalten, und wenn es Interesse daran hat, soll es Anspruch auf einen Platz in meinem Haushalt haben, sobald es alt genug ist.«
»Jawohl, Majestät«, sagte Ferda. Verstohlen wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen.
Ista nickte zufrieden. Sie war sicher, als gewissenhafter Offizier würde er dieser Aufgabe gerecht werden.
Der schattige Hain, der den Toten der Burg vorbehalten war, überblickte das idyllische Flüsschen. Immer noch wurden zahlreiche Gräber ausgehoben, und andere Trauernde — Kameraden und Verwandte der Getöteten — hatten bei den Riten ihrer Trauergesellschaft zugesehen. Ista hatte kaum eine Vorstellung, was für Gerüchte in Porifors über sie kursierten, doch innerhalb der nächsten Stunde bestürmten demütige Bittsteller dy Cabon und erflehten den Ablass der königlichen Heiligen für ihre eigenen Toten.
Also ließ sie sich den Rest des Tages bis zum Einbruch der Dunkelheit von dy Cabon und Liss von Grabstelle zu Grabstelle geleiten und berichtete vom Verbleib der Seelen. Es waren viel zu viele, doch diese Aufgabe war nicht so gewaltig wie die Verwüstung, die Joen und ihre Zauberer über Chalion gebracht hätten, wären sie nicht durch Porifors’ Opfer aufgehalten worden. Ista wies niemanden zurück, der ihre Hilfe erbat, denn gewiss hätte der Bittsteller sie auch nicht zurückgewiesen. Anscheinend hatte jeder Trauernde eine Geschichte über seinen Toten zu erzählen, und bald erkannte Ista, dass von ihr nichts anderes erwartet wurde als zuzuhören. Gib acht! Majestät, seht diesen Mann. Lasst ihn in Eurem Geist Gestalt annehmen wie in unserem. Denn in der stofflichen Welt lebt er jetzt nur noch in unserer Erinnerung. Sie hörte zu, bis ihr die Ohren ebenso schmerzten wie ihr Herz.