Dy Cabon atmete keuchend ein.
»… dass die Götter keine makellosen Seelen wollen, sondern bedeutsame. Ich denke, dass die Größe aus der Dunkelheit erwächst, wie Blumen aus dem Erdreich. Vielleicht kann Größe überhaupt nicht ohne Dunkelheit erblühen. Ihr wurdet von den Göttern ebenso berührt wie jeder hier. Gebt Euch nicht selbst auf.«
Seine matten grauen Augen röteten sich. Tränen schimmerten darin. »Ich bin zu alt, um noch einmal neu anzufangen.«
»Ihr habt noch mehr Jahre vor Euch als Pejar, der nur halb so alt war wie Ihr und den wir vor zwei Tagen hier vor den Mauern begraben haben. Stellt Euch an sein Grab und nutzt die Gabe des Atems, um Euch dort über Eure fehlende Zeit zu beklagen. Wenn Ihr es wagt.«
Er zuckte beim eisernen Klang ihrer Stimme zusammen.
»Ich biete Euch einen ehrenvollen Neubeginn. Ich kann Euch keine Versicherung geben, wie es ausgeht. Ein Versuch kann scheitern, doch nicht so sicher wie ein Unterfangen, das gar nicht erst angegangen wird.«
Er atmete langsam aus. »Nun … wenn es so ist, und da Ihr das alles von mir wisst … und ich glaube, Ihr wisst mehr von mir, als ich jemals einer lebenden oder toten Seele eingestanden habe … Wenn Ihr mich haben wollt, bin ich Euer Mann, Majestät.«
»Ich danke Euch, Hauptmann. Als mein Rittmeister werdet Ihr Eure Befehle von meinem Seneschall erhalten. Ihr werdet in ihm einen erträglichen Vorgesetzten finden.«
Goram lächelte leicht und verabschiedete sich.
Dy Cabon blieb noch einen Augenblick bei ihr stehen und sah zu, wie Goram dy Hixar aus dem Hof schritt. Er wirkte beunruhigt.
»Nun, dy Cabon? Wie fühlt Ihr Euch jetzt in Bezug auf Euren Wunsch, Zeugnis abzulegen?«
Er seufzte. »Wisst Ihr … von den Göttern erwählt sein ist … nun, kein so großes Vergnügen, wie ich gedacht hatte, damals in Valenda, bei unserem Aufbruch. Ich war insgeheim schrecklich aufgeregt, weil ich dafür ausgewählt wurde, die Arbeit des Gottes zu tun.«
»Ich habe versucht, es Euch zu erklären. Als wir in Casilchas waren.«
»Ja. Ich glaube, heute verstehe ich Euch besser.«
»Mein Hof wird auch einen Geistlichen brauchen, wie Ihr wisst. Da ich nun eine Art Laienschwester in der Kirche des Bastards bin, dürftet Ihr gut zu mir passen. Wir werden vermutlich in die fünf Fürstentümer reiten. Wenn Ihr tatsächlich das Märtyrertum erstrebt, wie Eure früheren Predigten vermuten ließen, findet Ihr dort vielleicht eine Gelegenheit.«
Er wurde rot. »Fünf Götter, was für dümmliche Predigten!« Er holte tief Luft. »Ich wäre froh, wenn wir das mit den Märtyrern übergehen könnten. Doch was das Übrige betrifft, sage ich Ja, Majestät, von ganzem Herzen. Auch ohne Träume, die mir den Weg weisen … ganz besonders, weil ich keine Träume hatte, die mir den Weg weisen sollten. Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich noch Wert darauf lege.« Er zögerte und fügte hinzu, mit einer Sehnsucht in der Stimme, die so gar nicht zu seinen vorherigen Worten passen wollte: »Ihr sagtet … Ihr habt ihn tatsächlich von Angesicht zu Angesicht gesehen, in Euren Träumen? In Euren Wahrträumen?«
»Ja.« Ista lächelte. »Einmal hat er Eure Gestalt angenommen, um mit mir zu sprechen. Wie es scheint, hält Euch zumindest einer nicht für unwürdig, Seine Farben zu tragen. Andernfalls hätte Er wohl kaum im Gegenzug Eure fleischliche Erscheinung gewählt.«
»Oh.« Dy Cabon blinzelte, während er dies auf sich wirken ließ. »Ist das so? Wirklich? Ach du meine Güte.« Er blinzelte wieder. Als er sich von ihr verabschiedete, zuckten seine Mundwinkel immer noch nach oben.
Nach dem Abendessen, als die Sonne schon untergegangen war und weiße Sterne am kobaltfarbenen Himmel über dem steinernen Innenhof schimmerten, kam Lord Illvin die Treppen empor und klopfte an die Tür zu Istas Gemächern. Liss ließ ihn mit einem freundlichen Knicks ins Vorzimmer. Mit verwirrter Miene hielt er Ista die Hände entgegen.
»Schaut. Das habe ich am Aprikosenbaum im Vorhof gefunden, als ich gerade eben vorüberging.«
Liss blickte darauf. »Das sind Aprikosen. Macht eigentlich Sinn, dass Ihr sie da gefunden habt … oder nicht?« Sie zögerte.
Die Früchte waren groß und von kräftiger Farbe, mit einer feinen Röte auf der tiefgoldenen Haut. Ista beugte sich vor, um besser zu sehen, und schnupperte den süßen Duft. »Sie riechen wunderbar.«
»Ja, aber … wir haben nicht die richtige Jahreszeit. Meine Mutter hat diesen Baum bei meiner Geburt angepflanzt, und den Mandelbaum für Arhys. Ich weiß genau, wann die Früchte reifen. Ich konnte es mein Leben lang beobachten. Das ist noch Monate hin! Der Baum trägt immer noch ein paar Blüten, auch wenn die Hälfte der Zweige abgefallen ist. Diese beiden Früchte wuchsen zwischen den verbliebenen Ästen versteckt — ich habe sie nur zufällig gesehen.«
»Wie schmecken sie denn?«
»Ich habe mich nicht recht getraut, hineinzubeißen.«
Ista lächelte. »Vielleicht kommen sie zur falschen Jahreszeit, aber ich glaube nicht, dass sie ein Unglück sind. Vielleicht sind sie ein Geschenk. Es wird schon seine Richtigkeit haben.« Mit einem Fuß stieß sie die Tür zum hinteren Zimmer auf. »Kommt mit. Lasst uns davon kosten.«
»Ah …«, meldete Liss sich zu Wort. »Ich kann in Sichtweite bleiben, wenn Ihr die Tür offen lasst. Doch ich glaube nicht, dass ich außer Hörweite kommen kann.«
Mit einer Kopfbewegung schickte Ista Illvin durch die Verbindungstür. »Entschuldige uns bitte einen Augenblick.«
Er lächelte, nickte würdevoll und ging in den Nebenraum. Ista schloss die Tür hinter ihm und wandte sich dann Liss zu. »Ich nehme an, ich habe dir noch nicht diese anderen Regeln für diskrete Zofen erklärt …«
Das tat sie dann, mit deutlichen, aber höflichen Worten. Liss’ Augen glänzten so hell wie die Sterne draußen am Himmel, während sie aufmerksam zuhörte. Ista war erleichtert, wenn auch nicht überrascht, als Liss weder verwirrt noch schockiert wirkte. Allerdings hätte sie nicht gleich Begeisterung erwartet. Unversehens fand sie sich durch die Tür geschoben, die hinter ihr geschlossen wurde, kaum dass sie geendet hatte.
»Ich glaube, ich setze mich ein Weilchen auf die Stufen, liebe Königin.« Liss’ Stimme drang gedämpft durch das Holz. »Es ist kühler draußen. Ich werde ziemlich lange dort sitzen, nehme ich an.« Ista hörte, wie auch die Außentür zufiel.
Illvin hatte Lachfältchen um die Augen. Er hielt ihr eine der Früchte entgegen. Ista nahm sie, und ihre Hand zuckte ein wenig, als die Finger versehentlich über seine strichen. »Nun«, sagte er und führte die Aprikose zum Mund. »Dann wollen wir beide mal mutig sein …«
Sie biss gleichzeitig mit ihm ab. Die Aprikose schmeckte so wunderbar, wie sie aussah, und obwohl Ista sich um Anmut bemühte, tropfte ihr am Ende doch der Saft vom Kinn. Sie tupfte daran herum. »Oh, du meine Güte …«
»Wartet«, sagte er und kam näher heran. »Lass mich helfen.«
Der Kuss währte sehr lange, und dabei spielten seine nach Aprikose duftenden Finger angenehm in ihrem Haar. Als sie innehielten und Atem holten, sagte Ista: »Ich habe stets befürchtet, dass göttlicher Beistand nötig wäre, um mir einen Liebhaber zu verschaffen … Ich nehme an, ich hatte Recht.«
»Na, na, schaut Euch an, bitter-süße Ista. Heilige, Zauberin, Königinwitwe von ganz Chalion-Ibra, die mit den Göttern spricht, wenn sie nicht gerade auf sie flucht — ein Mann müsste schon sehr wagemutig sein, von Euch auch nur so unhöflich zu denken. Das ist gut. Es wird die Zahl meiner Rivalen in Grenzen halten.«
Ista musste kichern. Sie hörte sich selbst und lachte laut. Verblüfft, erfreut und maßlos überrascht, schwelgte sie in diesem Lachen.
Und ich hatte schon Angst, ich wüsste nicht, wie ich das anfangen sollte …